Tödliches Schattentheater: White Night
Die Angst vor der Dunkelheit gehört zu unseren Urängsten. In den Schatten der Nacht, das wissen schon kleine Kinder, lauert das Verderben. Dass Horrorspiele mit dem Wechsel von Licht und Dunkelheit arbeiten, um uns Angst einzujagen, ist nun gar nichts Neues. So konsequent und überzeugend wie im Horroradventure White Night des französischen OSome Studios gelingt dies aber selten.
Dessen Protagonist sucht nach einem Autounfall mitten in der Nacht in einem verlassenen Herrenhaus Schutz. Dort durchlebt er eine Nacht, in der er schlaflos und verstört die schrecklichen Geheimnisse des Hauses zu entschlüsseln sucht. In den Schatten der leeren Hallen wartet das Grauen – und nicht überall gibt es funktionierendes elektrisches Licht. Minimalen Schutz bieten Streichhölzer, die in gewisser Zahl im Haus zu finden sind, doch sie spenden nur wenig Licht, brennen nach kurzer Zeit aus und bergen stets das Risiko, nicht zu zünden. Wirkliche Sicherheit bieten sie sowieso nicht: Nur elektrische Lichtquellen zerstören die tödlichen Erscheinungen, die sich in den Schatten des Hauses winden, zuverlässig. Oft ist der Sprint in den Lichtkegel einer Glühbirne das Einzige, was den sicheren Tod verhindert. Und ebenso häufig erweist sich der rettende Lichtschalter als Enttäuschung. Im besten Fall nur deshalb, weil der Stecker aus der Steckdose gezogen wurde – im schlimmsten Fall hat der komplette Stromkreislauf im Haus den Geist aufgegeben. So haben viele der Rätsel etwas damit zu tun, eine neue Lichtquelle und damit neu zu entdeckende Räume zu erschließen.
Die Dunkelheit ist aber in White Night auch eine metaphorische – sie ist ein Schatten, der sich über einen Großteil der Welt gelegt hat. Genau deshalb ist White Night mehr als nur ein weiteres hübsches Gruselspiel. Ich bin kein ausgewiesener Horrorfan, aber ich mag es, dass sich mit Elementen aus dem Horrorbaukasten Geschichten erzählen lassen, die tiefer gehen als das paranormale oder psychotische Grauen, das sie an der Oberfläche zeigen. Horror ist für mich dann am stärksten, wenn er irrationale Ängste und realen gesellschaftlichen Schrecken verbindet. Im Idealfall ist er Vehikel für Zeitkritik und großartige Unterhaltung zugleich.
Ein Paradebeispiel dafür ist Amnesia – A Machine for Pigs, das mit seiner Geschichte um ein grausames Experiment in einer Fleischfabrik auf elegante Weise auch von den Arbeits- und Lebensbedingungen des Proletariats in der Hochphase der Industralisierung erzählt. Während A Machine for Pigs im London des Jahres 1899 spielt, ist White Night in der historischen Evolution des Kapitalismus eine Epoche weiter: Im Amerika des Jahres 1938 angesiedelt, gibt das Spiel einen Einblick in die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die ab dem Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu beispielloser Verelendung und massiven gesellschaftlichen Verwerfungen führte. Die Welt steht 1938 zudem am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und damit einer der dunkelsten Epochen der Moderne. Die Düsternis der historischen Entwicklungen und die grausige Erzählung um tödliche Psychosen, dunkle Familiengeheimnisse und grausame Schicksalsschläge werden dabei geschickt zu einem dichten und atmosphärischen Netz des Grauens verwoben, das einen motiviert, möglichst viele der Tagebücher, Fotos und Dokumente zu finden, die im Haus verteilt sind.
Die Inszenierung ist beeindruckend: Das nahezu komplett schwarz-weiß gehaltene Spiel ist äußerst schick und die Dynamik der Lichteffekte wirkt, als würden Licht und Schatten ein Eigenleben führen. Kein Wunder, inspiriert ist das Licht-und-Schatten-Spiel schließlich von der Kunst des deutschen Expressionismus, so die Entwickler. Die Räume des Herrenhauses stecken voller Schrecken, aber auch voller Wunder: Filigrane Statuen, esoterische Symbole, bedrückende Familienporträts, im Wahn gemalte Monsterbilder und präparierte Vögel offenbaren sich dem, der mit dem Streichholz alle Ecken ausleuchtet. Dass es außerdem kein Zufall ist, dass die Geschichte von White Night mitten in der Goldenen Ära des Horrorfilms spielt, spiegelt sich vielerorts in der Ästhetik des Spiels wider. Sounddesign und Soundtrack sind reduziert aber schön und unterstreichen die unheimliche Atmosphäre. Zudem gibt es vielfältige musikalische Bezüge in der Geschichte, die im Verlauf des Spiels zu einigen hinreißenden Szenen führen.
Wenn es etwas zu bemängeln gäbe, dann wäre es wohl die technische Umsetzung der Geschichte. Zwar funktionierte die eigens für das Spiel entwickelte OEngine bei mir problemlos. Doch White Night ist ein Third-Person-3D-Spiel – das sich übrigens wesentlich besser mit dem Controller als mit der Tastatur spielt – und dabei kann es immer wieder passieren, dass man die Orientierung verliert, weil die Kameraperspektive plötzlich umspringt und links nicht mehr links und oben nicht mehr oben ist. Das hat besonders dann schwerwiegende Folgen, wenn es während einer Flucht vor einer der tödlichen Erscheinungen geschieht. Schnell läuft man ihr dann in die Arme statt ins rettende Licht und muss dann bisweilen an einem sehr viel früheren Speicherpunkt wieder beginnen.
Damit wäre auch der zweite heikle Punkt benannt: das Speichersystem. Automatische Speicherpunkte gibt es nur am Ende der Kapitel. Dazwischen lässt sich nur speichern, indem der Protagonist auf einem der im Haus verteilten Lesesessel Platz nimmt. Und auch das geht nur dann, wenn dieser Sessel gerade einer Lichtquelle ausgesetzt ist. Leider schien mir die Verteilung der Sessel an einigen Stellen recht unfair zu sein; gerade in schwierigen Passagen, in denen weniger Rätsellösen als geschicktes Schleichen und Flüchten gefragt ist, sind die Speicherpunkte oft weit weg. Zugleich erhöht die Speichermechanik allerdings auch den Druck auf die Spieler und verstärkt die furchterregende Wirkung mancher Passagen.
Ist das Speichersystem also schlechtes Gamedesign oder ein intelligenter Kniff, um die Spannung zu steigern? Vermutlich beides. Es hängt wohl stark von der individuellen Geschicklichkeit und Frustrationstoleranz ab, ob es zum Dealbreaker wird und man White Night vorzeitig den Rücken kehrt. Schade wäre es dennoch, denn die Geschichte und das hochatmosphärische Szenario lohnen bis zum bitteren Ende. Und selbst wer das aktuelle Zeitgeschehen nur sporadisch verfolgt, wird in den historischen Schilderungen über die Folgen der Weltwirtschaftskrise erschreckende Parallelen zur Jetztzeit entdecken, die mehr Gänsehaut erzeugen können als jede Geistererscheinung.
Jheey!!