Lucius – Son of Devil
Starren wir, passend zur unheimlichen Saison, der Wahrheit in ihr fürchterliches Gesicht: Die meisten Computerspiele verachten die Menschheit zutiefst. Menschen sind, je nach Genre, für sie nichts als formlose und ausbeutbare Ressourcen oder wandelnde Piñatas, die zerstückelt, zerblasen, zerstochen oder ganz einfach nur aus dem Weg geräumt werden dürfen, können und müssen. Eine Ausnahme jedoch bildeten seit jeher: Kinder.
Wo ein Computerspiel die Lizenz zum Töten erteilt, bleiben sie in der Regel komplett aus der Schusslinie. Und wo sie dennoch auftauchen, versagt das ansonsten so mächtige Fadenkreuz plötzlich im Angesicht ihrer schützenwerten und allmächtigen Stupsnäsigkeit. Das hat, selbstverständlich, gute Gründe. Nichtsdestoweniger darf man das finnische Indie-Spiel Lucius schon dafür mögen, dass es endlich auch die Zukurzgeratenen in das moralisch seltsam gepolte Universum des Erwachsenencomputerspiels hineinholt.
Der Trick, der die moralische Grenzüberschreitung erlaubt, ist simpel: Das Kind in Lucius ist höchstpersönlich die Personifikation alles Amoralischen und Bösen. In der ehrenfesten Tradition des Wonneproppen-Horrorfilms, von The Omen bis zu The Children, darf das Kind an der finstersten aller Welten teilhaben, weil es selbst das dunkle Zentrum dieser Welt bildet. Im Gegensatz zu den meisten Horror-Filmen lädt Lucius aber nicht zur Identifikation ein mit den geschädigten Eltern, die lernen müssen, ihre Instinkte auf dem Altar der Panik zu opfern und aus dem vermeintlichen Unschuldslamm Koteletten zu machen. In Lucius spielt man Satans Sohn höchstdarselbst und darf in seinen Schuhgröße-30-Fußstapfen Papas Weisung nachkommen, die liebende Umwelt gründlich ins Verderben zu stürzen. Das ist zunächst zunächst einmal eine offensichtlich fabelhafte Idee.
Und sie hat einen durchaus ansprechenden Rahmen spendiert bekommen: Die mit erdkrustendicken Schichten von Kitsch vorgetragene Hintergrundgeschichte spielt irgendwann in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ausschließlicher Schauplatz von Lucius ist jedoch ein verwinkeltes Herrenhaus, das nur darauf wartet, bespukt zu werden; von einer Edgar Allan Poe-Szenerie unterscheidet es sich höchstens durch die Präsenz einer Reihe von Elekrogeräten, die im Laufe des Spiels auf makabre Weise zweckentfremdet werden dürfen. Nicht, dass je in Zweifel stehen würde, wie klein das Team war, dass diese Architektur geschaffen hat – Wiederholung ist hier Stilprinzip und das vermutlich Unheimlichste am ganzen Spiel der seiner harrende Tross aus Familienmitgliedern, Dienern und Angestellten in seiner automatenhaften Wiederkäuung der ewig gleichen Sätze. Aber ebenso offensichtlich ist auch die Hingabe und profunde Genre-Kenntnis, mit der Shiver Games die Budget-Engpässe aufzuwiegen versuchen: Das in nostalgische Sepiatöne getauchte Familiengut ist voller Nischen, Ecken und Ritzen, deren Dekoration die Bewohner erfolgreicher beschreibt als ihre Robotersätze und leblosen Charaktermodelle; und dazwischen harren einige nie subtile, aber dennoch verblüffende Geheimnisse darauf, dass der Satansbraten sie unter seine gläsernen Augen bekommt. Ich gebe zu: Niemand hätte sich mehr gefreut als ich, in diesem Text das abgeschmackteste aller Wortspiele unterbringen zu dürfen – aber der Teufel liegt bei Lucius entschieden nicht im Detail. Im Gegenteil: Die Details sind leider so ziemlich das Einzige, was hier gelungen ist.
Das Diabolische ist vielleicht, dass die schönen Worte „Satans Sohn spielen!“ sofort zahllose hintertriebene Vorstellungen davon wecken, wie ein solches Spiel auszusehen hätte (am häufigsten dürfte wohl etwas im Sinne von Hitman – Eine turbulente Kindheit sein) – und dass 99% dieser Ideen interessanter sind als alles, was hier geboten wird. Lucius ist im Kern ein strunzkonservatives Point&-Click-Adventure, mit allen Verunstaltungen und Wucherungen, die das Genre einst beinahe in die Verdammnis stürzten. Die größte Sünde in einem kapitalen Register ist zweifelsohne das Gängelband, an dem ausgerechnet Lucifers Spross geführt wird. Zwar hat Lucius für seine Mordtaten ein Arsenal von übernatürlichen Fähigkeiten zur Verfügung – Telekinesis etwa oder die Möglichkeit, die Gedanken und Handlungen seines Gegenüber kurzfristig zu kontrollieren –, aber nichts davon kann in irgendeiner Weise kreativ genutzt werden. Freiheit und Rebellion ist keine Option hier: gemordet wird nach dem strikten Fahrplan der Entwickler, denen nie mehr als simpelste Schlüssel-in-Schlüsselloch-Puzzles einfallen wollen.
Die Willkür des Genres ist hier in geradezu grauenhafter Manier am Werk: Wenn etwa jemand vergiftet werden soll, ist es nicht möglich, eine andernorts gefundene Giftflasche dafür zu verwenden. Stattdessen muss, dem rätselhaften Willen der Entwickler gemäss, an der exakt richtigen Stelle auf das exakt richtige Objekt geklickt werden. War die Jagd nach dem einen heilbringenden Punkt auf den statischen Bildschirmen klassischer Adventures schon beängstigend genug, so nimmt sie noch unendlich grauenhaftere Ausmaße an in einem frei begehbaren 3D-Anwesen, neben dem die unergründliche Architektur des House of Leaves wie eine Schuhschachtel wirkt. Aber selbst wenn der richtige Punkt gefunden wurde, ist der Schrecken nicht überwunden; stattdessen muss man sich durch eine Schleichsequenz quälen, die ungefähr so erfreulich ist wie ein Sieben-Gänge-Mahl zwischen Satans Kiefern. (Wer Lucius’ widernatürliche Fähigkeiten eindrücklich findet, wird erst recht beeindruckt sein von seinen Eltern, die sich völlig lautlos bewegen und die Frucht ihrer Lenden noch über Korridore hinweg in völliger Dunkelheit erspähen können, womit sie den Sohn zur Wiederholung der gesamten Sequenz verdammen.) Anstrengender als das Spielen solcher Sequenzen kann die realweltliche Aufzucht eines Höllensprosses auch nicht sein.
Man mag den Entwicklern von Shiver ja eigentlich gar nichts Böses an den Hals wünschen: Es ist ihr erstes Spiel, sie haben einiges gewagt, und sie haben in Sachen Atmosphäre auch einiges richtig gemacht. Wer die Engelsgeduld besitzt, die das Adventure-Genre in seinen finstersten Momenten abverlangt, der soll halt in Gottes Namen sehen, ob er sich Lucius ins Haus holen will… meine Rolle ist es lediglich, mit unheilvoller Stimme, schlackernden Handgelenken und verdrehten Augen JENE WAHREN WORTE ZU VERKÜNDEN: ICH PROPHEZEIE BEDAUERN. ICH SEHE UNHEIL KOMMEN. ICH SPÜRE ZWIST, WUT UND FLÜCHE DRÄUNEN. (Und beim letzten meiner Worte rutscht eine Glasplatte von einem vorbeifahrenden Transporter, gleitet lautlos auf meine Halsschlagader zu und trennt sauber meinen Kopf von den Schultern, während hinter mir auf dem Bildschirm ein Kind mit blanken Augen ein grob animiertes Lächeln grinst.)