Max Payne 3
Neun Jahre sind seit dem Erscheinen von Max Payne 2 vergangen und doch kommt es mir vor, als wäre ich gestern erst mit Max in Zeitlupe durch die kalte Luft von New York geflogen, während um mich herum die Gegner in einem Ballett aus Kugeln und Blut in bewusst platzierte Farbeimer stürzten. Neben auch sonst beeindruckender Grafik war nämlich die Havok-Physik-Engine ein zentrales Element des Spiels und ließ Gegenstände und Personen (fast) realistisch miteinander kollidieren. 2012 ist nun das Jahr, in dem Max Payne zurückkehrt.
Remedy, das Entwicklerstudio der ersten beiden Teile, kämpft heute lieber mit Alan Wake gegen Schattenmonster, weswegen die zuvor schon als Publisher fungierenden Rockstar Studios die Fortsetzung selber in die Hand nahmen. Mit dem neuen Entwickler kam ein neues Setting (São Paulo in Brasilien) und ein neuer Look für den Protagonisten (Glatze und Vollbart), was zu einem vorhersehbaren Aufschrei in der Fan-Gemeinde sorgte. Max Payne war doch ein Noir-Held, da müsse es doch düster sein und den ganzen Tag regnen — zwei Attribute, die man auf den ersten Blick nicht mit Süd-Amerika verbindet. Haben neue Umgebung und Frisur dem alten Haudegen jetzt gut getan oder nicht?
Die neue Umgebung hat dem alten Griesgram sogar sehr gut getan, wie ich finde. Warum hielt sich Max überhaupt noch in dieser Stadt auf, die ihm bereits Frau, Kind und Geliebte genommen hat? Dieses dunkle New York, das ihn betrogen und mehrmals fast umgebracht hätte? Jeder Therapeut hätte dem gebeutelten und vom Schicksal gezeichneten Witwer sowieso schon lange zu einem Tapetenwechsel geraten. Doch Max versinkt lieber in Selbstmitleid und Schuldgefühlen, um seinen Seelenschmerz mit Tabletten und Alkohol zu ertränken. Die Fortführung der Geschichte, dass er sich daraufhin widerwillig als Bodyguard für eine wohlhabende Familie in Brasilien anstellen lässt, erscheint mir nicht nur schlüssig, sondern bringt auch die Figur als Charakter voran.
Dieser starke Bruch zu den Vorgängern erlaubt es Rockstar, Max Payne neue Facetten zu verleihen und die Figur, wortwörtlich, in einem neuen Licht zu zeigen. Ich erlebte einen gebrochenen und sich im Grunde schon selbst aufgegebenen Anti-Helden, dessen Alkohol- und Drogenexzesse unweigerlich zu seinem Tod führen müssten. Von Rockstar wird dieser Gefühls- und Geisteszustand, in den sich Max beständig bringt, sehr geschickt und mitreißend in Form von optischen Aussetzern, Filmüberlagerungen, Fehlern, Überblendungen und Farbverschiebungen direkt auf das Spielgefühl übertragen. Der kaputte Held fasziniert, weil ich mit ihm leiden kann.
Während ich den neuen Max als Figur noch nachvollziehen kann und sein stetiger Fall in den Abgrund mit der Beobachtung eines schrecklichen Unfalls zu vergleichen ist, bei dem man einfach nicht wegschauen kann, ist der Umzug nach Brasilien für mich inhaltlich nicht wirklich gelungen. Sie zerstört sogar die Motivation, überhaupt weiterzuspielen. Ich hasse die Menschen, die Max beschützen soll, und er hasst sie eigentlich auch, aber da er kein anderes Ziel mehr im Leben hat, geht er doch auf seine wahrscheinlich letzte Rettungsmission. Doof nur, dass ich ihn dabei steuern muss. Neben Max schafft es keine Figur auch nur ansatzweise, für den Spieler von Interesse zu sein. Nicht mal die Bösewichte bekommen genügend Aufmerksamkeit, um überhaupt als Oberschurken ein Gesicht zu bekommen. So bleiben nicht nur die Millionen von Fußsoldaten, sondern auch die Drahtzieher im Hintergrund farblose Gesellen, die zwar spezielle Kampfumgebungen spendiert bekommen, aber keine Rechtfertigung liefern, warum sie diese verdient haben. Die Genugtuung des Sieges tendiert so gegen Null. Aber vielleicht ist gerade das ja eine der Aussagen des Spiels. All die Gewalt und all die Toten! Aber für was?
Eigentlich untypisch für ein Rockstar-Spiel, dass die Nebencharaktere so blass sind. Wenn ich da an den Totengräber aus Red Dead Redemption oder die beiden liebenswürdigen Trottel Brucie und Roman Bellic aus GTA IV denke, fällt mir im direkten Vergleich dazu bei Max Payne 3 keiner ein, der auch nur ansatzweise im Gedächtnis bleiben wird. Es ist ein sehr lineares Spiel ohne Open-World-Ablenkungen. Alle vier bis fünf Minuten kommt eine Cutscene, die die Story vorantreibt. Man könnte doch eigentlich denken, dass es das einfacher machen würde, Charaktere zu formen und zu präsentieren. Meine Interpretation ist, dass die oberflächlichen Menschen, für die Max in seiner neuen Rolle als Bodyguard sein Leben riskiert, durch ihre Seelenlosigkeit die “ich habe nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnt“-Einstellung des Protagonisten betonen soll. Erst als die Frau des Auftraggebers unter Max’ Schicht gekidnappt wird, bricht sein altes Trauma auf und unser Protagonist hat wieder eine Mission. Er kann unmöglich erneut eine Frau verlieren.
Dazu deckt Max in der zweiten Hälfte des Spiels ein dreckiges, menschenverachtendes Komplott auf. Dessen grausames Ausmaß geht so an die Substanz, dass man Max’ Rachefeldzug daraufhin bereitwillig unterstützt. An diesen Stellen ist sie wieder zu spüren, die Sozialkritik der Houser-Brüder. Die große Kluft zwischen Arm und Reich in Brasilien, wenn man in Slum-Bordelle gegen korrupte Para-Militärs kämpft, wird mehr als deutlich thematisiert. Leider hält auch dieser Storybogen nur kurz an und verliert sich dann schnell wieder nach dem dazugehörigen, gesichtslosen Zwischenboss. So richtig bissig oder schlüssig wird dieses Thema nicht zu Ende geführt. Auch Max’ oft thematisierte und dramatisch in Szene gesetzte Alkoholsucht wirkt nur noch halb so schwerwiegend, wenn man in der direkt daran anschließenden Action-Sequenz mit einem athletischen Hechtsprung fünf schwerbewaffneten Gegnern im vollen Lauf präzise eine Kugel zwischen die Augen platziert und noch vor der Landung auf dem Boden Zeit hat, zwei Schmerztabletten einzuwerfen.
Der optische Ortswechsel geht für mich dagegen in Ordnung. Im sonnigen Brasilien lässt es sich auch gut in Zeitlupe durch den Kugelhagel rennen und wer diesen Aspekt eines Max Payne-Spiels bevorzugt, kommt voll auf seine Kosten. Was die Action anbelangt, ist Max Payne 3 mein Highlight der aktuellen Videospielgeneration. Die Deckungsmechanik und die Möglichkeit des automatischen Zielens ignorierte ich nach kurzer Spielzeit, weil sie jede Spannung aus den Schusswechseln nahmen. Ohne sie kommt der Bullet-Time eine größere Bedeutung zu und darum geht es doch bei Max Payne. Mit Maschinenpistolen in beiden Händen rennt man in einen Raum voller Gegner, aktiviert den Zeitlupenmodus, springt hinter den nächsten Tisch, mäht im Flug zwei Bösewichte nieder, zerstört mit Fehlschüssen sämtliches Mobiliar und hechtet aus der Deckung mit brüllenden Läufen in den letzten Gegner.
Dank etwas zu realistischer Physik muss man bei der Hüpferei aufpassen, nicht an der nächsten Hauswand hängen zu bleiben und grunzend vor den Füßen des Gegners zu landen, aber genau das wurde für mich zum wichtigen Spielelement. Der Sprung in Zeitlupe kann nämlich auch ausgeführt werden, wenn eigentlich keine Energie für die normale Bullet-Time mehr vorhanden ist. Plant man die eigene Landung in einer sicheren Zone ein, kann man demnach fast permanent durch die Luft schweben und Tod und Verderben über die Gegner bringen. Aufgrund der famosen Grafik und den unterschiedlichen Örtlichkeiten kommt in diesem Bereich auch die Abwechslung nicht zu kurz. Unnötig und deplatziert sind dagegen die übertriebenen Fahrzeug-Sequenzen, die leider zu sehr an Call of Duty erinnern und bei mir für ungläubiges Kopfschütteln gesorgt haben.
Ich fand diese Passagen eigentlich ganz passabel, weil sie das einzig spielerische Element bleiben, die für ein bisschen Abwechslung sorgen (und eine extra Portion Kino-Flair einbringen). Ob auf einem Jetboat in Miami Vice-Manier oder eine Fluchtsequenz mit einem Linienbus, sie sind kurzweilig und hübsch inszeniert. So packend die regulären Schusswechsel auch sind: Gegen Ende des Spiels wurde mir die Action ehrlich gesagt etwas zu viel und einen Tick zu eintönig — vor allem gegen die völlig übertriebenen Gegnermassen im letzten Kapitel. Aber gut, bis dahin hatte ich einen Mörderspaß (pun intended).
Ein wenig wehmütig denke ich doch an den alten Max aus Teil 1 und 2 zurück. Als er noch kein komplettes Wrack war, sondern nur ein zynischer Typ am Abgrund. Als Remedy auch mal mit einigen absurden Levels für Erholung im ewigen Kugelhagel sorgte und noch etwas mehr Pulp in das Noir-Szenario einfließen ließ. Dieses Augenzwinkernde hat Rockstar Games komplett gestrichen und durch strikte Härte ersetzt. Aus meiner Sicht tat das dem Unterhaltungswert des Spiels inhaltlich nicht gut. Berauschend ist dagegen jeder Schusswechsel inszeniert und bringt dank neuer Technik einen Grad an visuellem Chaos auf den Bildschirm, der in dieser Detailverliebtheit lange ungeschlagen sein wird.
Ja, die Film-Noir-Comic-Ästhetik ist einer neuen, dem modernen Neo-Noir Action-Kino geschuldeten Optik gewichen, die mich aber nicht weniger stark begeistert hat wie Max Payne 1 und 2 seiner Zeit. Für mich hat das Spiel audiovisuell perfekt gepasst. Die typographischen Einblendungen, die gesamte, fabelhafte Licht-Stimmung, der treibende Soundtrack und allen voran die tollen Sprecher sind auf allerhöchstem Niveau. Die von Dir angesprochene Liebe zum Detail hat es mir auch angetan. Max Payne bewegt sich wahnsinnig geschmeidig und man sieht und spürt einen deutlichen Unterschied, ob er eine abgesägte Schrotflinte in beiden Händen hält oder zwei leichte Automatikpistolen parallel abfeuert. Alleine zu beobachten, wie es Max Payne schafft, mit zwei vollen Händen die aktuelle Schußwaffe nachzuladen, ist faszinierend.
Auch wenn ich mir von Rockstar mehr Ausarbeitung der Nebencharaktere gewünscht hätte, hat mich Max Payne 3 sehr begeistert. Ich kann Daniel (und Andreas und Micha) eigentlich nur zustimmen in seiner Aussage, dass es das beste Action-Spiel dieser Konsolengeneration ist. Für mich auch eine würdige Fortsetzung der Geschichte um den New Yorker-Ex-Cop. Rockstar schafft es, das Spiegefühl der Vorgänger perfekt in unsere neuen Sehgewohnheiten und der cineastischen Entwicklung der Spieleindustrie zu transportieren.