Stille Wasser sind … Thief

Zehn Jahre. Zehn unglaublich lange Jahre musste ich warten, um das Gefühl des geschickten Schattenhuschens und der diebischen Überlegenheit wieder erleben zu dürfen. Eine ähnlich lange Zeit wartete ich bisher nur auf Diablo 3, doch im Gegensatz dazu, hat Thief mich kaum wenig fast gar nicht enttäuscht. Auch wenn sich die Kritiker ganz offensichtlich einig darüber sind, dass Thief kein besonders gutes Spiel ist, war es für mich wie nach Hause kommen. Im Glockenturm tauschte ich den dicken Wintermantel gegen die Ledergarderobe, die Turnschuhe gegen lautlose Lederslipper und stülpte mir zu guter Letzt Handschuhe über die Finger. Kurz darauf betrete ich die Stadt, hüpfe von Dach zu Dach, weiche ein paar Wachen aus und lasse links und rechts von mir nichts Glitzerndes unangetastet. So fühlt es sich an, wieder in die Rolle des Diebes Garrett schlüpfen zu dürfen. Endlich.

Thief_Garrett

Uhh, Garrett…

Garrett ist der Steppenwolf unter den Ausgestoßenen. Ein etwas griesgrämiger Typ, wortkarg, auf seinen eigenen Vorteil bedacht und jegliche Robin-Hood-Allüren sind ihm fremd. “Stehlen? Weil ich’s kann,” und nicht, um damit die Welt zu retten, Waisenkinder durchzufüttern oder um Schwiegermutters Liebling zu werden. Nein, Garrett ist nun wirklich kein Superheld in strahlender Rüstung, der auszieht, das Böse zu vertreiben. Falls das doch geschieht, dann nur, weil er ein egoistisches Motiv verfolgt. Die Rettung der Welt ist ein Nebeneffekt, denn wo keine Welt, da auch keine Kisten und Tresore, aus denen man Wertvolles stehlen kann. Leuchtet ein.

Abgesehen von der hübschen Lederkluft ist es genau jener menschliche, fehlerbehaftete Zug, der mir an dieser Figur so sehr gefällt. Ich möchte kein Superheld sein. Ich möchte ein Mensch sein, nachvollziehbar und authentisch. So authentisch eine Figur in einem viktorianischen, mit Magie durchsetzten Szenario eben sein kann. Bereits in der Einstiegsmission passiert das, was König Laios von Theben mit Ödipus nicht hätte besser machen können: Das Unglück, welches er zu verhindern versuchte, trat genau durch sein eigenes Eingreifen ein. Ärgerlich. Sowohl für Ödipus, der später seine eigene Mutter heiratete, als auch für Garrett, der seinen Schützling in eine ziemlich unangenehme Lage bringt. Den Rest der Geschichte kennt man sowieso schon, sollte man Dishonored gespielt oder einen x-beliebigen Fantasyroman gelesen haben. Fad. Wie Rhianna Pratchett freiwillig ihren Namen unter diese austauschbare Geschichte setzen konnte, ist mir schleierhaft. Über die merkwürdig abgemischten Zwischensequenzen mit undurchsichtigem Erzählstrang legen wir auch lieber das Deckmäntelchen des Schweigens.

Was wirklich zählt

Andererseits: Für mich spielte das weder bei Thief, noch bei allen anderen Schleichspielen eine ernsthafte Rolle. Die Rahmenhandlung von Mark of the Ninja ist im besten Fall nett und ästhetisch, von so einem kleinen Projekt muss man natürlich auch nicht mehr erwarten. Im Vorgänger Thief: Deadly Shadows ging es ebenfalls um irgendeine böse Macht, die irgendwelche fiesen Dinge anstellte und gähn. Hammeriten und Heiden? Gähn. Dishonored? Naja. Nein, tatsächlich steht das bei einem Schleichspiel im Hintergrund. Sicher schließt sich eine gut erzählte Geschichte und ein Schleichspiel nicht aus, doch hier scheint es auf andere Aspekte anzukommen.

Einer dieser wirklich wichtigen Aspekte, wäre das Gefühl der geistigen Überlegenheit. Verstand über Körperkraft. Das Konzept des Schleichens und Stehlens beruht darauf, dass ich stets gerissener bin als mein Gegner. Ich beobachte und analysiere ihn so lange, bis ich jeden seiner Schritte und den seiner Freunde auswendig kenne, um geschickt an ihm vorbeizuhuschen. Huschen darf hier übrigens wörtlich genommen werden. Dabei sprintet Garrett von einem Versteck zum nächsten und kann so kurze, beleuchtete Distanzen überbrücken und dabei nur wenig Aufmerksamkeit erregen. In den Vorabversionen der Tester war diese Fähigkeit noch übermächtig, da die Wachen scheinbar beim Huschen überhaupt keine Notiz von Garrett nahmen. In der finalen Version wurde das allerdings geändert.

Thief_Besser

Der Kampf mit einer Wache bedeutet eigentlich immer, dass ich im Vorfeld einen Fehler begangen habe. Ein Zeichen, dass ich zu ungeduldig vorpreschte oder einfach die Situation nicht gut genug analysiert habe. Auf rohe Körperkraft darf und muss bei einem guten Schleichspiel verzichtet werden, insofern bleibt sich Thief in seinen basalen Elementen treu. Ein Punkt, bei dem ich vor Verzückung jubeln möchte. Selbst ein Knockout mit dem berüchtigten Blackjack kann als Versagen gedeutet werden. Als ich in Dishonored die Wachen noch k.o. schlagen durfte ohne meinen No-Kill-Run zu gefährden und das durchaus seinen Reiz hatte, wird das bei Thief aber bereits als Fehler gewertet. Umso mehr muss ich mich bemühen, alles genau zu analysieren und meine verschiedenen Möglichkeiten wie Leuchtgranaten und Ablenkungsmanöver sorgfältig einsetzen.

Denn dann, und erst dann, entfaltet Thief seinen unwiderstehlichen Charme. Momente, in denen ich im günstigen, kurzen Augenblick hinter einem Busch aus zu einer Kiste husche, um kurz darauf die Fackel mit einem meiner Wasserpfeile zu löschen, mich dann ungesehen per Seilpfeil auf eine höher gelegene Ebene zu ziehen, mich durch das Fenster ins Haus zu tricksen und um dann endlich alle Schubladen auszuräumen. Diese Flow-ähnlichen Erlebnisse lassen mich glauben, dass ich besser bin. Ein Gefühl, dem ich schwer widerstehen kann und das ich vermutlich nicht erleben würde, hätte ich der Wache einfach eins von hinten übergebraten und sie fein säuberlich mit all den anderen in einer dunklen Ecke gestapelt. Das Austricksen von Sicherheitsanlagen gehört ebenso zu diesem Überlegenheitsgefühl wie das Herausfinden von Safecodes.

Thief_Buch

Der Jäger und Sammler

Das andere fundamentale Element eines Thiefs ist das gepflegte Ausleben von Zwangsneurosen. Sammeln. Alles. Alles sammeln! Nicht nur irgendwie, nein, es muss perfekt und elegant gesammelt werden. Natürlich möchte ich ungern echte Zwangsneurosen mit der Sammelleidenschaft in Schleichspielen verharmlosen, nur aufzeigen, dass es bisweilen bizarr anmutet, wenn man als Garrett plötzlich statt nach Norden über weite Umwege nach Süden läuft, nur weil irgendwo auf einem Dach ein kleines Funkeln zu erspähen war, das auf eine verloren gegangene Geldbörse hindeutet. In diesem Zusammenhang sei gesagt, dass der Zielmarker auf dem Bildschirm im extrem umfangreichen HUD-Menü nicht nur ausgestellt werden kann, sondern unbedingt ausgestellt werden sollte! Imperativ mit Sternchen. Wer sich nur von Questziel zu Questziel hangelt, wird bitterlich enttäuscht werden. Das unterscheidet Dishonored meiner Ansicht nach erneut von Thief. Hatte ich bei Dishonored noch 2-3 drei Nebenaufträge, die ich auf dem Weg zum eigentlichen Ziel quasi nebenbei erledigen konnte, muss ich bei Thief etwas mehr Aufwand und Suche betreiben. Welches System ich als Spieler bevorzuge, ist sicher eine Geschmacksfrage.

Persönlich liegt mir Thief, das etwas mehr Eigeninitiative erfordert, einfach mehr, denn das Aufregende liegt wortwörtlich abseits der Straßen. Es wartet in Nebenquests, es wartet in vermeintlich versteckten Kellern, Geheimgängen, bei versteckten Händlern und verbuddelten Schätzen. Eigenmächtig und ohne sonstige Hinweise zwischen den Hauptmsissionen Geheimnisse zu lösen, macht den Reiz dieses Spieles aus. Und derer gibt es im Spiel sehr viele. Die oft kritisierte verschachtelte Karte sehe ich hierbei nicht als Manko, sondern als große Stärke. Es ist kompliziert in einen bestimmten Bereich der Stadt zu kommen und nur, wer diese wie seine Westentasche kennt, dem wird der nächste Beutezug elegant gelingen. Das Verwinkelte und Verschachtelte ist wie eine Reise in meine Spielevergangenheit. Ich wünschte mir noch mehr davon, um damit gegen alle großen, blinkenden “Hier geht’s lang!”-Pfeile dieser Welt anzustänkern.

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Innerhalb der Missionen bietet sich das Ausschalten des Wegweisers im HUD umso mehr an, denn viele Wege führen zum Ziel. Es bleibt mir überlassen, ob ich die Villa des fiesen Oberbosses durch den Keller, durchs Fenster oder durch einen Seiteneingang betreten möchte. Den Open World Charakter zwischen den Missionen behält Thief wie im Vorgänger Deadly Shadows bei. Natürlich sind die Areale nicht mit einem Skyrim gleichzusetzen, für mehrere Stunden Herumstreunern und um eine der üppig vorhandenen Nebenquests abzuschließen reicht es allemal. Und die lohnen sich. Die Aufgaben sind schnell zu lösen und beinhalten in einem abgegrenzten Gebiet die Möglichkeit, alles genau zu erkunden und verschiedene Taktiken auszuprobieren. Einfach launig. Wer sich unter einer Oktopus-Katze bisher nichts vorstellen konnte, dem kann dank der Nebenquests auch geholfen werden.

Man nehme eine Macke und füge noch fünf weitere hinzu

Bei aller Euphorie muss eines trotzdem deutlich gesagt werden: Thief ist kein ausgereiftes Spiel. Thief ist eher wie der launische Bruder, nach dessen Freundschaft man sich sehnt, aber man nie so richtig weiß, ob er einen mag oder nur austrickst. In der deutschen Version steht beispielsweise die fantastische Synchronisation Garretts durch Sascha Rotermund in perfekter Disharmonie zur Asynchronität und Blassheit aller anderen Figuren. Eine nette Idee war es in der Tat, Menschen im Vorbeigehen in Wohnungen belauschen zu können, die nicht selten Hinweise auf besondere Beute ausplauderten – wäre da nicht die katastrophale Tonabmischung, die irgendwie keinen Unterschied zu machen scheint zwischen nahegelegenen und weit entfernten Personen. Die Lautstärke und Dumpfheit der Sprache scheint per Zufallsgenerator ausgewürfelt worden zu sein. Abgesehen davon, dass es manchmal unfreiwillig komisch wirkt, ist es der Atmosphäre des Spiels nicht gerade zuträglich. Optisch mit all den verwinkelten Ecken, düsteren Schatten und nebligen Straßen definitiv ein Meisterwerk, dank dem verhunzten Sound aber und der etwas leblosen Straßen atmosphärisch von einem Deadly Shadows weit entfernt.

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Last but not Thief

In der Tat wirkt Thief so, als ob es zum Ende hin so schnell wie möglich zusammengezimmert worden wäre. All die Macken und Unsauberkeiten zeigen, dass AAA nicht der Garant für höchste technische Qualität sein muss, sondern dass man sich auch in diesen Dimensionen immer noch verkalkulieren kann. Dennoch: Ich hatte unglaublich viel Spaß. Im Kern ist es ein fantastisches Schleichspiel von großem Umfang. Mal spielte ich eine Mission im Hardcore-Modus ohne Wachen auszuschalten, mal stapelte ich sie in dunklen Gassen und alles in allem hatte ich 25 Stunden puren Genuss. Die technischen Macken zählte ich nur der Vollständigkeit halber auf, gestört haben sie mich wenig bis gar nicht. Nach Abschluss der Hauptstory warten übrigens noch neue Nebenmissionen und neue Items auf mich und ein erneutes, verbessertes Durchspielen der bisherigen Missionen steht auch auf der Agenda. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich viele Spieler von den unverhältnismäßig schlechten Kritiken nicht abschrecken lassen und eine Diebestour in “Der Stadt” nicht ausschlagen werden. Denn 10 weitere Jahre möchte ich nun wirklich nicht mehr auf Garrett einen neuen Teil warten.