Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels
Die 400 Seiten starke Fachliteratur bot mir einiges; neben der wirklich grandios hochwertigen Buchgestaltung gab es zum Beispiel interessante Hinweise auf das Mini-Arcade-Spiel-im-Spiel Super Turbo Turkey Puncher 3 (bekannt aus dem dritten Teil der Doom-Reihe, S. 189), ein altes 2nd-Person-Shooter-Experiment (S. 193), das Kunstprojekt Shoot an Iraqi (S. 201), die Erklärung einer (formal begründeten) Paranoia als Normalzustand im Egoshooter sowie ernstgemeinte Vergleiche zwischen da Vincis Bildnis des letzten Abendmahls Jesu mit Wolfenstein 3D (ab S. 134). Dennoch bin ich nicht zufrieden.
Was mich nach der Lektüre so unzufrieden zurücklässt, das ist nicht etwa die Betonung der “essentielle[n] Bildlichkeit” (S. 31) des Computerspiels und der damit verbundenen — entweder naiven oder dezent arroganten — Verdrängung sämtlicher Audio(-only)-Games. Nicht einmal die kuriose Aussage, dass “[s]elbst wenn der Monitor zur Seite gekippt wird und die Figuren daher ihre Lage gegenüber den Bildbetrachtern verändern, so […] die Figuren doch nicht im Bild um[fallen]” würden (S. 123) und ihre leichte Widerlegbarkeit stört mich sonderlich. Selbst der absurde, wenn auch nur am Rande stattfindende Legitimationsversuch, dass die Killerspiel-Bezeichnung als ein Genre-Begriff geeignet wäre (S. 33), kann mir maximal ein Stirnrunzeln entlocken.
“[D]as, was das Computerspiel zu einem eigenständigen […] Medium macht, [ist] das durch die Spieler
manipulierbare Bild.”
(Quelle: Stephan Günzel,
Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels, S. 17)
Nein, der Bild-, Raum- sowie Computerspielwissenschaftler und Philosoph Günzel scheint mir einer dieser äußerst gelehrten und belesenen Intellektuellen zu sein, die jedoch leider zu akademischen Kurzschlussreaktionen in Form von übersteilen Thesen und überzogenen Grundannahmen neigen. Jedenfalls erscheint mir sein theoretisches Fundament recht bröckelig. Günzel stilisiert die Manipulierbarkeit des Bildes zum medialen Alleinstellungsmerkmal des Computerspiels hoch, wobei sein Bildverständnis das Bewegtbild von Filmen und Computerspielen einschließt. Daraus zieht er allerdings äußerst fragwürdige Schlussfolgerungen:
“Egoshooter sind nicht eine späte Form des Computerspiels, sie sind die einzig echte Form des Computerspiels und damit ein medienlogischer Nullpunkt.”
(Quelle: Stephan Günzel,
Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels, S. 49f.)
Dieser Wahrhaftigkeitsanspruch ist in meinen Augen beunruhigend dogmatisch. Dabei sind Günzels Feststellungen und viele seiner Überlegungen ja wunderbar analytisch und rufen neue Denkweisen hervor. So erkennt er, dass im Egoshooter die Zentrierung der Bildperspektive das eigentliche zentrale Spielprinzip darstellt, und nicht etwa das digitale ‘Schießen’. Die Bildlichkeit allein konstituiert das gesamte Genre. Das Bild im Egoshooter ist nicht etwa ein Anhängsel, sondern die Basis für das Spiel. All das stimmt ja — generell.
Leider erkranken seine grundsätzlich korrekten Beobachtungen dabei immer wieder an seiner abstrusen Anfangsannahme, dass das Computerspiel ein Bildmedium sei; im Zuge dessen glorifiziert er den Egoshooter hin zum “Inbegriff des Computerspiels” (S. 38). Daraus ergibt sich der Scheinfakt, dass nur der Egoshooter das wahre, das grundlegende, das radikale Computerspiel sein könne. Schade, dass der Autor sein analytisches Talent in solchen Gedankenverstrickungen versiegen lässt. Günzel ist für mich der Typ Akademiker, dem ich nicht ansatzweise zustimmen kann, mit dem ich jedoch liebend gerne ein paar Stunden diskutieren würde. Er ist eloquent, er ist klug, aber eben auch eine Spur zu festgefahren und prätentiös. Dabei könnte er auch ganz anders, da bin ich mir sicher:
“Trotz des unterschiedlichen Interaktionsprinzip sind Tetris und Egoshooterspiele also miteinander vergleichbar:
Beide […] Spieletypen sind zuletzt originäre Computerspiele, weil sie keine Entsprechung oder Vorlage in einem
Papier- oder Brettspiel haben.”
(Quelle: Stephan Günzel,
Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels, S. 118)
Mein Fazit zu diesem Buch ist folgendes: Günzel beweist tiefgreifende Analysekompetenzen und ein Gespür für richtige Vergleiche sowie Parallelen. Seine etwa 500 Literaturangaben sind ein Beleg für sein Fachwissen. Seine kurativen Fähigkeiten (vermittelt in der Auswahl von rund 300 farbigen Spiele-Abbildungen auf 400 Seiten) erleichtern die Lektüre. Dennoch ist es inhaltlich manchmal haarsträubend bis absurd.
Natürlich wäre aufgrund dieses Zwiespalts nun mein Ratschlag, dass ihr euch selbst eine Meinung bildet — jedoch ist das Buch mit dem hohen Preis von 49,00 Euro nicht besonders erschwinglich und von einer fünf Abschnitte langen Leseprobe abgesehen findet man im Internet kaum etwas. Glücklicherweise gibt es aber bei YouTube einen Vortrag des Autors über eben diese Thematik und das Buch selbst. Ich empfehle einen Einstieg ab 14:10, aber das sei natürlich euch überlassen. Von einer Kaufempfehlung lasse ich erstmal ab.