Demenz ist für Angehörige zu Beginn leicht zu verleugnen. Wenn ein geliebter Mensch häufiger mal Salz mit Zucker verwechselt, geht das gut als Schrulligkeit durch. Dann kommen vergessene Termine. Dann liegt die Brille nicht mehr auf dem Nachttisch, sondern im Kühlschrank, die Tischdecke liegt neben der Unterwäsche und in den Kochtöpfen stecken die Pantoffeln. Demente Menschen verstecken ihren Gedächtnisverfall, bis es nicht mehr anders geht. Irgendwann besteht ihr Erinnerungsvermögen aus Fetzen, die selbst Angehörige nicht mehr sinnvoll interpretieren können. In unserer Realität gibt es dafür keine Heilung. In Ether One gibt es das Ether-Institut. Es versetzt Menschen mit fortschrittlichster Technik in den Geist von Demenzpatienten. Ihr Ziel: Die Suche nach vergessenen Erinnerungen.
Ether One zu spielen, fühlt sich zu Beginn an wie eine Heldentat. Ich verstehe mich auf Anhieb als Erinnerungs-Archäologe, ich wühle im Unterbewusstsein eines Menschen, um zu Tage zu fördern, was sie nicht mehr zu wissen in der Lage ist. Ob das Abbild ihres Geistes dabei etwas mit der Realität zu tun hat, in der meine Patientin lebte, bleibt im Dunkel. Tatsache ist: Ich grabe mich durch eine dunkle Kohlemine, halb überflutet. Generatoren laufen, alles sieht aus, als sei der Ort gerade erst verlassen worden – das jedoch endgültig. Denn Leben gibt es hier keines. Kein Mensch, kein Minenarbeiter, keine Kakerlake oder Ratte. Selbst der Käfig, in dem sonst der Frühwarn-Kanarienvogel sitzt, ist leer. Dafür liegen an den verlassenen Arbeitsplätzen Notizen, die in meinem Kopf ein Bild entstehen lassen, wie es in dieser Mine einst gewesen sein mochte – oder auch nicht, denn ein Großteil der Kumpel hat lediglich apokalyptische Gedichte hinterlassen. Daneben warten Rätsel auf mich. Schalter müssen in der richtigen Reihenfolge umgelegt werden, aber auch Gegenstände am richtigen Ort platziert.
Das wirkt zunächst trivial. Tatsächlich ist es die denkbar einfachste Form eines Adventure-Rätsels, eine Kurbel auf die Kurbelwelle zu stecken, damit sich eine Tür öffnet. An anderen Stellen wird es jedoch metaphysisch: Ein Filmprojektor liegt zerschmettert auf dem Boden und nur das Auffinden bestimmter Schlüsselstellen im Erinnerungsvermögen meiner Patientin führt dazu, dass er sich wie von Geisterhand wieder zusammensetzt. Das bedeutet etwa auch, dass ich einem längst nicht mehr anwesenden Vorarbeiter sein Buch mit den Arbeitsanweisungen auf den Schreibtisch legen muss, das er in einem überfluteten Stollen vergessen hat. Jene Filmprojektoren bilden im weiteren Verlauf den Kern von Ether One. Nach der Mine, die als Tutorial dient, finde ich mich im britischen Hafenstädtchen Devlin wieder. Ein Ort voller verwunschener Orte und angefüllt mit kaputten Projektoren – 20 an der Zahl.
Devlin ist ein verstörender Ort. Wie schon die Mine ist die Stadt vollkommen menschenleer, einerseits zwar, als sei sie gerade erst verlassen worden, andererseits jedoch äußerst steril. Die Spielwelt wirkt unbelebt. Bäume, Büsche, Sträucher beugen sich nicht im Wind, sie bieten keinen Lebensraum für Vögel, noch nicht einmal eine Sonne steht merklich am Himmel. Devlin bleibt zu jeder Zeit der Geist meiner Demenzpatientin. Rätsel für Rätsel rekonstruiere ich zunächst den Projektor des Schmieds, dann den in der Hafenkneipe. Die Rätsel sind schwierig, trotzdem habe ich nie das Gefühl, verloren zu sein, denn per Druck auf T komme ich jederzeit zurück in mein kapselförmiges Hauptquartier. Dort sammelt das Spiel für mich gefundene Filmrollen, Notizen und auf Wunsch auch meine eingesammelten Gegenstände. Ein Inventar im herkömmlichen Sinne gibt es nämlich nicht – möchte ich mehr als ein Objekt gleichzeitig aufbewahren, bin ich stattdessen genötigt, in meine Einsatzzentrale zurückzukehren und Dinge in Regalen abzulegen. Ein Prinzip, das prinzipiell nervtötend sein könnte, es aber bei Ether One nur selten ist, weil die meisten Gegenstände nah an ihrem Fundort eingesetzt werden müssen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Entwickler von White Paper Games ein einfaches Spiel geschaffen haben. Die Rätsel sind verzwickt und teilweise alles andere als offensichtlich, das Spiel erinnert nicht nur im Hinblick auf seine Sterilität sehr an die Myst-Reihe. Erschwerend hinzu kommt eine Unart aus der Frühphase des Adventure-Genres: das Absuchen des Bildschirms. In einer dreidimensionalen Welt gestaltet sich das ungleich schwerer. Der Teller auf dem Schreibtisch des Vorarbeiters spielt eine wichtige Rolle und ist deshalb aufnehmbar, mehrere Teller, die neben dem Spülbecken in der Kantine stehen, sind dagegen bloße Hintergrundgrafik. Das führt dazu, dass ich mich durch sämtliche Räume auf Verdacht nicht optisch, sondern per Mausklick orientiere. Die ersten zwei Stunden Spielzeit stört mich das sehr – dann entwickle ich ein Gefühl dafür, welcher Gegenstand bedeutsam ist und welcher nicht.
Ether One ist wie ein guter Rotwein: Braucht Zeit zum Atmen, sollte dekantiert werden und entfaltet seinen Geschmack erst nach ein paar Stunden. Dann muss man aber die ganze Flasche trinken, das ganze Spiel spielen. Ether One vermittelt wundervolle Erfolgserlebnisse. Gelöste Rätsel wirken wie Motivationsspritzen. Gleichzeitig fesselt die Atmosphäre gerade durch ihre Sterilität. Die Spielwelt wirkt nicht wie eine wirkliche britische Kleinstadt, sondern wie das, was sich meine Demenzpatientin noch darunter vorstellen kann, gepeinigt von Vergessen, Depression und Paranoia. Wie ein Helfer fühle ich mich bald nicht mehr, denn die Geschichte wirft rasch kritische Fragen auf. Ich frage mich, ob meine Patientin sich überhaupt erinnern will. Oder ob sie überhaupt noch einen Willen hat.
Sieh in meinen Augen sehr interessant aus. Ich finde ihr macht echt gute Artikeln.
Weiter so.