Dwarf Fortress: And in the Game
Es war der 15. Granit des Jahres 2650, als Udib Tosidag, Zwerg, Seifenmacher und seit Monaten für niedere Arbeiten in der stolzen Festung Schmalerde abgestellt, gerade als er dabei war, einen Haufen grässlich verrottete Yakhaut aus den Küchen zu den Abfallhängen beim Ausgang der Festung zu tragen, eine plötzliche Erleuchtung hatte. Vielleicht war die leichte Übelkeit angesichts der gleißenden, viel zu hellen Herbstsonne schuld daran, vielleicht der Anblick der weit unten im Tal auf der anderen Flussseite grasenden Elefanten, vielleicht auch der kaum verwundene Schock des Vorfalls mit den untoten Muscheln am Fluss vom Vortag, die Udib plötzlich innehalten ließen und eine schlagartige Veränderung auslösten. Wie vom Donner gerührt, den fransenbartumflorten Mund debil offen, die Kappe aus Höhlenspinnenseide tief in die fliehende Stirn verrutscht und wie üblich mit nur einer Socke stand Udib, Sohn des mächtigen Schmiedes Datan Likotzes, von dessen Heldentaten und unrühmlichen Ende bei einem Magmaunfall vor fünfzehn Jahren die Reliefs in der geschäftigen Eingangshalle der Festung Kunde gaben, die endlos scheinende Zeitspanne von hundert Atemzügen reglos da, die offen gestanden übelst riechende Yakhaut über den stämmigen Schultern, und sah die Hand Gottes.
Nun kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass Zwerge, besonders jene der Festung Schmalerde, äußerst selten zu Visionen religiöser Natur neigen. Abgesehen von gelegentlichen Rasereien, Amokläufen, Bluträuschen, tragisch in kreativen Selbstmorden endenden Depressionen, vereinzelten Tobsuchtsspiralen, fieberhaften Arbeitsmanien oder makaberen Selbstverwirklichungen in zugegeben autistischen Trancen gilt das fleißige Erdvolk allen Völkern als realistisch und bodenständig, man könnte sogar sagen als nüchtern; Letzteres freilich nur im übertragenen Sinne, denn praktisch brauchte jeder Zwerg erstaunliche Mengen Alkohol, um es durch den Arbeitstag zu schaffen. Visionen religiöser Natur, wie sie Udib Tosidag an diesem Herbstmorgen in seiner Routine unterbrachen, waren unerhört und kamen auch in den langen Annalen der Festung, die in den endlosen polierten Bildwerken und Skulpturen der Trinkhalle und des neu errichteten Trakts mit den Gruften der Adeligen alles Bemerkenswerte der Festung dokumentierten, praktisch nicht vor.
Erstarrt vor Schrecken sah Udib aber nun unleugbar, wie Gottes Hand mit übernatürlicher Geometrie in grauenerregender Geschwindigkeit die sanften Wälder der Flusses umfasste und sie veränderte; waren eine Sekunde zuvor dort nur Eschen, Pappeln und Ulmen gestanden, sah Udib nun mit einem Mal mit absoluter Gewissheit das Brennholz des nächsten Winters, und nur seine Starre, und die schwere, stinkende Haut des geschlachteten Yaks auf seinen Schultern, hielten Udib davon ab, einem plötzlich auftauchenden inneren Drang zu folgen und mit gezückter Axt zur nächsten Ulme zu laufen und sie zu fällen.
Stattdessen stand Udib benommen da und folgte der Hand Gottes mit weit aufgerissenen Augen zur steil aufragenden Zinne des Gebirgsmassivs hinter ihm und sah mit staunender Gewissheit, dass dort oben in naher Zukunft ein zweiter Zugang zur Festung samt Depot für die elbischen Händler – Fluch diesen langohrigen Baumstreichlern! – sowie neuer Müllhalde ihren Platz finden würden – die alte war ohnedies seit Wochen heillos überfüllt, was Udib wie alle anderen Unglücklichen bestätigen konnte, die zum Ausräumen der stinkenden Abfälle eingeteilt waren. Dort, wo zuvor nur ein leerer Abhang gelegen war, befand sich nun nach Gottes Ratschluss also die neue Abfallhalde, und eigentlich, eigentlich hätte ihn sein Weg nun ohne weiteres Nachgrübeln just dorthin führen sollen. Doch Udib Tosidag hatte die Hand Gottes gesehen, und die schwere Erschütterung über das soeben erfahrene Mysterium brachte in ihm etwas zum Zerbrechen.
Langsam ließ Udib die Yakhaut zu Boden gleiten, wandte sich um und wankte mit steinerner Miene zurück in die Festung. Vorbei an der Zugbrücke, vorbei an den Fallenkorridoren, vorbei an der mysteriösen riesigen Konstruktion, die kaum einer so ganz verstanden hatte, vorbei an den rastlos trainierenden Milizionären und den endlos scheinenden Rudeln an wild in der Festung lebenden Katzen führte ihn sein dumpf brütender Weg bis hin zur Werkstatt eines unglückseligen Knochenschnitzers, der gerade dabei war, eine weitere Charge an Musikinstrumenten aus Karpfengräten fertigzustellen. Wortlos packte Udib den Verdatterten am Kragen und beförderte ihn unsanft nach draußen. Wortlos sammelte Udib herumliegende Materialien ein – Schädelknochen von Schildkröten, ungeschliffene Rubine, Eschenholz und etwas Rentierleder. Jeder Zwerg, der ihm auf seiner Suche nach den scheinbar sinnlos zusammengewürfelten Materialien begegnete, ging ihm aus den Weg, denn die Bewohner von Schmalerde wussten, was es zu bedeuten hatte, wenn sich einer der ihren so von der zwergischen Gesellschaft isolierte.
Erst am dritten Tag seines dumpfen Brütens, als lange kein Geräusch aus der übernommenen Knochenschnitzerwerkstatt ertönt war, wagte es ein tapferer Juwelenschneider namens Astesh Zuntirecem, einen Blick zu Udib hineinzuwerfen. Es war ein Bild des Schreckens. Fiebrig, ausgehungert und rastlos krümmte sich Udib Tosidag in einer Ecke über den gesammelten Materialien zusammen. Nur mit Mühe konnte Astesh die Wortfetzen “Gottes Hand” und “…brauche Adamantium” aus dem wirren Gestammel seines ehemaligen Freundes heraushören. Die Tragödie war vorgezeichnet. Es gab kein Adamantium in Schmalerde; noch nicht, auch wenn die legendären Bergleute nach ihren Expeditionen in die tiefsten Eingeweide des Berges unterhalb der Wohnkammern beschworen, dass sie welches finden würden, wenn man sie nur tief genug graben ließe.
Udib war verdammt, und er selbst wusste es. Es würde nicht mehr lange dauern, und die Frustration über sein unmöglich fertigzustellendes Projekt und sein zunehmend vernebeltes Gehirn würden ihn zur rasenden Bestie machen, die spuckend und gewalttätig in einem Amoklauf aus fliegenden Socken und Körperteilen viele unschuldige Zwergenleben mit sich in den dunklen Abgrund des Todes reißen würde. So lag Udib Tosidag mit halb geöffneten Augen da, den Blick starr auf die niedrige Türe zu seiner Werkstatt gerichtet, die, so wusste er, zu seiner Gruft werden würde. Und tatsächlich: Nach sechs Tagen des delirierenden Dahindämmerns, gerade als Udib Tosidag in sich die unbändige Raserei aufkommen spürte, kamen Udibs Freunde mit schüchternen Blicken, Tränen in den Augen und schwere Granitblöcke in den Händen, zu seinem Lager des Wahnsinns und vermauerten die Tür.
Udib schloss die Augen und lächelte. Sein Zorn war einer tiefen Lethargie gewichen, und eine sanfte Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Denn er hatte sie noch einmal gesehen, im letzten Moment, bevor der letzte Granitblock den letzten Lichtstrahl verdunkelt hatte: die Hand Gottes, wie sie fast zärtlich, aber unbarmherzig mit einer kleinen Geste seine Einmauerung befohlen hatte.
Denn nicht nur er, der kleine, unbedeutende Zwerg, war Gottes gewahr geworden, sondern auch das Auge Gottes, das wurde ihm in diesen seinen letzten Stunden bewusst, hatte ihn, Udib Tosidag, Seifenmacher der Festung Schmalerde, gesehen. Gott hatte seine Not erkannt und in überzwergischer Weisheit seine Liebsten vor der unweigerlich in ihm heranwachsenden Raserei beschützt.
Alles war gut.