Antichamber

Antichamber ist, als wärst du in einem M.C. Escher-Gemälde gefangen.”

Ich bin auf einem Klassentreffen und unterhalte mich wild gestikulierend mit meiner ehemaligen Kunstlehrerin über Videospiele. Von denen hat sie wenig Ahnung, aber mit dem Vergleich wird sie sicher etwas anfangen können.

“Weißt du, was nicht-euklidische Geometrie ist?”, frage ich.

Sie hebt eine Augenbraue.

“Nun, stell dir einen großen Würfel vor — zwei Kubikmeter, und eine der Seiten hat eine Öffnung, in der du einen Tunnel siehst, der unmöglich in den Würfel passen kann.”

Ich mag, wie Sie an dieser Stelle nicht das im Internet übliche, beinahe pawlow‘sche “Portal!“, sondern “Wie in Doctor Who! It’s bigger on the inside!” ruft.

Das Spiel verzichtet auf ein Menü. Der Start schleudert mir das Unreal-Logo entgegen und ich finde mich in einem dunklen Raum wieder. Hinter Glas ist eine Tür mit der Überschrift “Exit” zu sehen, und irgendwo lacht Alexander Bruce. Auf der gegenüberliegenden Wand läuft ein mysteriöser Countdown. Optionen wie Auflösung oder Sound befinden sich in der Spielwelt. Daneben eine Übersichtskarte, die darauf wartet, erkundet zu werden. Und gegenüber die Worte, die bereits in einer Urversion des Spiels auftauchten — damals, als Antichamber noch Hazard: The Journey of Life hieß:

“Every journey is a series of choices. The first is to begin that journey.”

Die in sich selbst faltenden Räume und absichtlich verwirrenden Rätsel von Antichamber als “Puzzles” zu bezeichnen, wird dem Spiel kaum gerecht. Oft ist nicht einmal klar, wo ein Raum aufhört und der nächste beginnt. Nichts ist wie es scheint — und meistens ist das größte Hindernis der eigene Verstand.

Bruce hat ein Problem mit etablierten Puzzlespielen. In der Regel wird zunächst die Mechanik erklärt, ehe der Spieler sie anwenden kann.

“Das sind keine Puzzles, sondern Hausaufgaben. Als würde man 100 mal eine mathematische Gleichung anwenden und nur ein Paar Variablen ändern. Diese Spiele wollen ein Gefühl von Cleverness erzeugen, und bewerfen den Spieler mit allerlei Achievements und Schnickschnack, solange er genau das vom Designer vorgegebene tut. Das Gefühl bleibt dabei jedoch komplett künstlich.”, ließ Bruce in einem Interview mit Gamasutra verlauten.

Nach fünf Stunden Spielzeit erhält mein waffenartiges Werkzeug eine neue Farbe und bahnbrechende Fähigkeit — Details an dieser Stelle würden die Überraschung ruinieren — und ich muss an Alex’ Worte denken. Die Korridore in Antichamber sind mit Sprüchen und Weisheiten gesät, die fast immer erst zugänglich sind, nachdem das Rätsel gelöst wurde. Durch diese Freiheit, selbst auf die Lösung zu kommen (und sei es nur eine selbstgebaute Treppe aus Klötzchen), fühle ich mich jedes mal unglaublich clever und erhaben. Als hätte ich das Spiel und den Entwickler überlistet. Dieser Moment, wenn es im Kopf klickt, ist wundervoll mächtig und derart donnernd, dass ich einige Pausen einlegen musste. Das ist leider auch einer der Schwachpunkte von Antichamber, weil oft nicht klar ist, ob eine Aufgabe mit den vorhandenen Fähigkeiten überhaupt trivial lösbar ist.

Das ist der Metroidvania-Aspekt von Antichamber. Obwohl durchaus eine Art Pfad linearer Progression existiert, gibt es Hindernisse, die nur mit dem entsprechenden Powerup zu überwinden sind. Als Fan von Speedruns fällt mir an dem Punkt das Konzept des Sequence Breaking ein. In Spielen dieser Art entdeckt die Speedrunner-Community oft die wahnwitzigsten Abkürzungen. Kleine Details, die die Designer übersehen haben. Ich twittere in Vorfreude. Gestern Abend zerstörte Alexander Bruce dann beim Betrachten eines solchen Speedruns, dem es innerhalb von wenigen Minuten gelang, zum Spielende vorzudringen, vor lauter Begeisterung versehentlich seinen Computer.

Zehn Stunden benötigte ich etwa, bis ich ans Ende gelangte und alles erkundet hatte. Weniger obsessive und videospielaffine Menschen mögen Antichamber schneller oder langsamer verschlingen. Ich erspare ihr die Tangenten und beende meinen begeisterten Monolog:

“Ich glaube, das ist eines dieser Spiele, die jeder erlebt haben sollte. Weil es so schön gewaltfrei ist, Neugierde belohnt und beweist, dass Lernen — und seien es noch so abstrakte Konzepte und Regeln — tatsächlich noch Spaß machen kann.”

Antichamber ist für rund 15 Euro auf Steam erhältlich. Wer noch ein bisschen mehr Spoiler vertragen kann, sollte sich Indie Fresse #18 anhören, oder die morgige Episode Insert Moin.