Kritische Masse: Eine Selbstrezension

Kritikfähigkeit ist eine Eigenschaft, mit der ich mich in zahlreichen Bewerbungen geschmückt habe, ohne wirklich groß darüber nachzudenken, was sich alles hinter der oberflächlichen Bedeutung dieses Begriffes versteckt. Ich haue niemandem eine rein, wenn er mir sagt, dass ich etwas vielleicht nicht ganz optimal gelöst habe und kann auch Korrekturvorschläge annehmen. Widerwillig zwar, aber immerhin. Damit ist es nur leider nicht getan. Denn was ich nun seit mehreren Jahren im Internet mache, ist nichts anderes als permanent zu kritisieren, zu mäkeln und zu motzen. Über Videospiele, Videospieler und Videospielmacher. Kritisieren ist nicht mein Beruf und eigentlich auch nicht mein Hobby. Videospiele sind mein Hobby. Der Grund, weshalb ich diese zu kritisieren anfing, war schlichtweg Unzufriedenheit. Ich war unzufrieden mit Inhalten, Mechaniken und verschiedenen neuen Geschäftsmodellen. Ich war aber auch unzufrieden damit, wie die Leute, deren Beruf das Kritisieren tatsächlich ist, ihre Kritik ausübten. Ich wollte es besser machen. Ich hielt mich auch auf aktiver Seite für kritikfähig. Heute habe ich das Gefühl, sehenden Auges in ein Minenfeld getapst zu sein. Vom Kritikempfänger zum Kritiker und zurück. Zeit, statt immer nur die anderen auch zur Abwechslung einmal sich selbst zu hinterfragen.

Roger Ebert

“Of what use is freedom of speech to those who fear to offend?” (Quelle: Roger Ebert, “Roger Ebert’s Movie Home Companion”, 1990, S. 735)

Videospiele sind weder Autos noch Kühlschränke. Dass sie lange Zeit vielerorts nach ganz ähnlichen Maßstäben beurteilt wurden wie solch technisches Gerät, war sicher ein wichtiger Ansatzpunkt für mich, eine angemessenere, inhaltlich geprägte Kritikform zu verwenden. Die Mainstream-Kritik hatte den Übergang von Super Mario zu System Shock und die damit verbundene Wandlung von einer reinen Spielerei zum erzählenden Medium verschlafen und ich wollte dazu beitragen, diesen Missstand zu beseitigen. Natürlich war ich nicht so naiv zu glauben, meine bescheidene Meinung würde an irgendeiner Stelle zu einem Umdenken führen, aber ich hielt es dennoch für wichtig, auch in einem zugegebenermaßen winzigen Rahmen eine andere, vermeintlich fairere Besprechung des Themas zu propagieren. Weg von krampfhaft objektivierten Fakten, hin zu subjektiver Wahrnehmung. Essayistische Erlebnisberichte statt Framerates und Spielspaßprozente. Ich wollte soziologische und psychologische Hintergründe von Spielmechaniken ergründen und dem Reiz des Spielens auf den Grund gehen. All diese großen Vorhaben sind gescheitert. An meinem Ego, an meiner verallgemeinerten Selbstwahrnehmung und an der Verharmlosung des Missverstandenwerdens. Erste Zweifel an meiner Kritikfähigkeit bahnten sich ihren Weg.

Reich Ranicki

“Der Kritiker ist kein Richter, er ist der Staatsanwalt oder der Verteidiger.” (Quelle: Marcel Reich-Ranicki, “Literarisches Quartett”, 1994)

Egal welche Ausdrucksform wir wählen, es steckt immer auch ein großer Teil unseres Wesens im Endprodukt. Ob wir etwas schreiben, ein Video aufnehmen oder ein Spiel programmieren, in jedem Absatz, in jedem Standbild und in jeder Codezeile stecken wir mit drin, weil diese sonst nicht existieren könnten. Ob es sich bei dem Text nun um eine Review eines neuen Blockbusters handelt, ob das Video nur fallendes Laub zeigt oder ein Spiel so abstrakt ist wie Antichamber, ist dabei völlig nebensächlich. Wenn man der Welt etwas zeigen will, muss man zwangsläufig auch sich selbst präsentieren. Deshalb verrät der Kritiker oftmals viel mehr über die eigene Person, als über die Dinge, die er eigentlich entlarven möchte. Wenn ich über Sexismus in Videospielen schreibe oder plumpe Gewaltdarstellung anmahne, dann ist das auch eine Verortung meines Wertekanons und meiner Sicht auf die Welt und sagt nicht immer alles Notwendige über die Hintergründe der Problemstellungen, die Ziele meiner Kritik sind, aus. Allein schon die Tatsache, dass ich selbst mit 30 noch mit Vergnügen einen Controller in die Hand nehme, während meine Altersgenossen Videospiele längst als Zeitverschwendung abgetan haben, birgt viel persönliches Interpretationspotenzial. Das ewige Spielkind. Nie erwachsen geworden. Flucht ins Virtuelle statt sozialer Kontakte. Das muss nicht zwangsläufig stimmen und sind teils klischeebehaftete Vorurteile, aber derlei Rückschlüsse werden durch bestimmte Muster, die ich mit meiner Autorentätigkeit offen lege, zumindest suggeriert. Warum sonst sollte jemand seine kostbare Freizeit nicht nur mit Spielen, sondern auch noch mit dem Schreiben über Spiele vergeuden?

Mit solchen Vorverurteilungen kann ich mittlerweile umgehen, weil ich weiß, wie der Hase läuft. Wer austeilt, muss auch einstecken können. Wer Kritik übt, muss auch Kritik über sich ergehen lassen. Auge um Auge, Zahn um Zahn, stand ja schon in der Bibel. Dabei spielt es keine Rolle, ob man ein Spiel positiv oder negativ bewertet, oder, Gott bewahre, irgendwo dazwischen. Oder ob man über ein übergeordnetes Thema wie Geschlechterrollen in Spielen schreibt. Wer eine Kommentarfunktion aktiviert hat, wird mit Gegenwind rechnen müssen, sie ist schließlich nicht nur für grenzenlose Lobhudelei erdacht worden. Hier beginnt dann aber auch die oftmals nicht enden wollende Abwärtsspirale der Kritik. Der Kritiker wird für seine Kritik kritisiert und kritisiert seine Kritiker, weil sie seine Kritik nicht verstehen. Das Aufeinanderprallen von verschiedenen themenbezogenen Erfahrungen, Hintergründen und allgemeinen Sozialisationen ist ein Faktor, den ich anfangs völlig unterschätzt habe. „Ist doch logisch, das sieht doch wohl jeder ein!“, so die übliche, viel zu gutgläubige Grundannahme beim Verfassen eines Artikels. Manchmal war ich der Verzweiflung nahe, wenn jemand einfach nicht verstehen wollte, worum es mir ging. Und das ist auch heute noch so, weil sich andere Interpretationen und Meinungen für mich falsch anfühlen.

Phil Fish underwater

Ein Grund dafür ist, dass Gameskritik sich zu oft auf die involvierten Personen stürzt und dabei leicht den Blick auf das Wesentliche, also auf die rein inhaltliche Ebene, verliert. Das betrifft nicht nur den aktiven Kritiker, sondern oftmals auch den Kritisierten selbst, da es letzteren nur gibt, weil zwischen Produkt- und Personenkritik nicht ausreichend differenziert wird. Eine große Überraschung ist das freilich nicht, da in Fez eben auch so viel von Phil Fish steckt und in diesem Artikel so viel von mir. Es ist fast unmöglich, seine eigene Kreation als ein von sich losgelöstes Erzeugnis zu sehen, weil es dieselbe DNA in sich trägt. Ähnlich verhält es sich mit Meinungen, die nicht einfach hingenommen werden können, sondern zwangsläufig als Affront gegen die eigene Haltung wahrgenommen werden. Während man sich zumindest in elaborierteren Kreisen damit abgefunden hat, dass Essen, Musik oder Filmvorlieben Geschmackssache und demnach nicht streitbar sind, ist man beim Thema Videospiele von einer solch liberalen Auffassung leider noch viele hundert Kommentarseiten entfernt, was wahrscheinlich nicht zuletzt dem jahrzehntelangen Pseudo-Faktenjournalismus geschuldet sein dürfte. Wem nie beigebracht wurde, dass Spielerfahrungen eine sehr individuelle Angelegenheit sind und wer sich stets nur mit Wertungskästen und Spielspaßkurven beschäftigt hat, der versucht ganz natürlicherweise auch eigene Spielerfahrungen zu objektivieren. Doch das Wissen um diesen Umstand sorgt leider noch lange nicht dafür, dass man diesen Verhaltensweisen tatsächlich trotzt.

Denn ohne Frage, ich bin der Letzte, der hier den ersten Stein werfen sollte. Zu oft habe ich über Personen und nicht über deren geschaffene Inhalte geschimpft und zu oft habe ich Kritik persönlich genommen, obwohl diese doch prinzipiell inhaltlich orientiert war. Weil ich mich selbst zu wichtig nahm. Weil der Strudel aus kritisieren und kritisiert werden mich in eine beständige Abwehrhaltung gebracht hat, aus der nur wenig Konstruktives entstehen konnte. Ob mir diese Selbstgeißelung nun dabei hilft, ein besserer Kritiker und ein duldsamerer Kritikempfänger zu werden, kann ich noch nicht beurteilen. Ich bin mir aber sicher, dass die aufgezeigten Formen von Trotzreaktionen nicht mein alleiniges Problem sind, sie betreffen vielmehr die komplette Diskussionsatmosphäre des Mediums, die nicht zuletzt dank Facebook und Twitter auch durch die schiere Masse an potenziellen Kritikern erdrückt wird. Persönliche Befindlichkeiten sind die Hauptgründe dafür, dass es kein Fez 2 geben wird und weshalb eine solch notwendige Auseinandersetzung mit der Exklusion von Frauen in Videospielen, wie sie Anita Sarkeesian besonders öffentlichkeitswirksam angestoßen hat, letztlich doch versandet. Da kann man noch so stolz in die Welt schreien, dass das Medium ja so erwachsen geworden sei, die dazugehörige Diskussionskultur steckt ganz offensichtlich noch in den Kinderschuhen, weil gekränkte Egos und eine anhaltende Fixierung auf Nebenschauplätze ein Vorankommen massiv hemmen.

Sarkeesian Pinball

“Please keep in mind that it’s both possible, and even necessary, to simultaneously enjoy a piece of media while also being critical of its more problematic or pernicious aspects.” (Quelle: YouTube)

Nun könnte ich hierzu weitere Beispiele und Namen nennen, in der die kritische Auseinandersetzung völlig aus dem Ruder gelaufen ist, doch würde ich mich so nur selbst in meiner Kritik bestätigen. Dieser Artikel soll nicht dazu dienen, in Zukunft Kritik nur nach Vorschrift zu äußern und schon gar nicht soll er einen verschriftlichten Mittelfinger an alle Hater darstellen. Mir geht es allein darum, Spiele und Spielkritiken als etwas Persönliches und höchst Individuelles zu betrachten und deshalb die eigene Kritik zu entpersonalisieren. Das klingt erst einmal widersprüchlich, doch nur wenn die Beurteilung eines Spiels oder einer Spielermeinung darauf verzichtet, ein Werk mit einer Person zu verknüpfen, kann auch dessen Schöpfer lernen, sich von seinem Baby zu lösen, Kritik konstruktiv anzunehmen und sie womöglich sogar in sein zukünftiges Schaffen einfließen zu lassen. Ob das alles praktisch möglich ist, weiß ich natürlich nicht, aber man kann ja wenigstens versuchen, sich zu arrangieren. Mit dem Wissen, dass Missverständnisse und Fehlinterpretationen dazu gehören. Mit der Gefahr der Selbsterhöhung und dieser ständigen Verallgemeinerung. Mit diesem großen, unüberschaubaren Minenfeld namens Kritik.

Nun bin ich wohl endgültig selbst einer geworden: Ein Kritiker der Kritiker. Einer, der sich wieder einmal von den Inhalten wegbewegt, um persönlich zu werden. Dafür muss ich mich selber rügen. Denn auch das gehört zu einer gesunden Streitkultur, wie sie dem Medium Videospiele bisher weitestgehend abgeht: Selbstreflektion und Einsicht. Das Bewusstsein der Bedeutungslosigkeit der eigenen Meinung in einem größeren Kontext. Das Anerkennen anderer Auffassungen und Sichtweisen. All das fällt mir nach wie vor schwer. Genauso wird es mir auch wieder schwer fallen, kritische Kommentare unter diesem Artikel zu lesen. Manche begleiten mich vielleicht sogar bis in den Schlaf. Das Wort „kritikfähig“ habe ich deshalb aus meinen Bewerbungsunterlagen gestrichen. Denn auch wenn Kritik mittlerweile zu meinem Alltag gehört und ich oftmals gerne über ihr stehen würde, werde ich mich vermutlich doch nie so ganz an sie gewöhnen.

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