Totgesagte leben länger. Geräte, deren letzte Charge längst vom Fließband gerollt ist, die von ihren jeweiligen Urhebern in die Seniorenresidenzen der Videospielindustrie und einen ruhigen Lebensbabend entlassen wurden, legen gelegentlich nach Jahren wieder eine erstaunliche Vitalität an den Tag. So auch Segas Mega Drive, das 2010 mit einem Rollenspiel-Großprojekt gesegnet wurde, das selbst die professionell entwickelte Software für das System vielfach in den Schatten gestellt hat. Die Rede ist von Pier Solar And the Great Architects, das seinen Ursprung in einem kleinen Internetforum fand und sich Jahre später unerwartet zur großen Hoffnung der rollenspielfreudigen Retro-Szene entwickelte.
In der vergangenen Woche ist ein HD-Remake auf Steam erschienen, über das auch Windows-, OSX- und Linux-Nutzer_innen in den Genuss des Spiels kommen sollen, dessen in Modulform gepresste Verianten stets binnen kürzester Zeit ausverkauft und aktuell für astronomische Preise gehandelt werden. Darin enthalten ist die ursprüngliche 16Bit-Fassung inklusive schepperndem Soundtrack wie auch eine grafisch vollständig überarbeitete Version samt hochwertigerer Musikaufnahmen, die ursprünglich nur Besitzer_innen des Sega Mega-CD zur Verfügung standen.
Trotz Hochglanzpolitur ist und bleibt Pier Solar eine Antiquität: Kämpfe werden zufällig initiiert und, in Anlehnung an Spiele wie Dragon Quest und Final Fantasy, rundenbasiert mittels eines kreisförmigen Menüs ausgetragen. Eine kleine Abweichung von den darin aufgeführten Standardoptionen stellt das „Sammeln“ dar, durch das je Runde ein Konzentrationspunkt gewonnen werden kann, der Attacken entweder verstärkt oder überhaupt erst ermöglicht. Diese Punkte können außerdem zwischen den einzelnen Teammitgliedern ausgetauscht werden – wenn sich also ein Charakter im Kampf als nutzlos erweist, weil er die falschen elementaren Eigenschaften oder schlechtes Equipment mitbringt, kann er sich als Energielieferant nützlich machen.
Ebenso unbrauchbar ist allerdings die Automatik-Funktion, die angesichts der zahlreichen Kämpfe nicht unwillkommen wäre. Obwohl das Verhalten der KI in einem engen Rahmen angepasst werden kann, verhält sie sich selten taktisch klug und ressourcenschonend; magische Angriffe können nur pauschal zugelassen oder deaktiviert werden, was angesichts der variierenden Stärken der einzelnen Figuren wenig Sinn ergibt. So bleibt also nicht mehr, als Runde für Runde jedem der Recken individuelle Befehle zu erteilen – wieder und wieder und wieder und wieder. Denn Monster tauchen gefühlt nach jedem zweiten zurückgelegten Meter und noch dazu allzu oft in überlegenen Positionen auf.
Der inflationäre Einsatz von Hinterhalten und die gelegentlich strapaziöse Dauer der in der einzelnen Dungeon-Segmenten immer gleichen Kämpfe zieht schnell Ermüdungserscheinungen nach sich und bremst den Spielfluss kontinuierlich aus. Ein Problem, das auch deshalb besonders deutlich hervortritt, weil die Navigation oftmals eine enorme Herausforderung darstellt. Wege führen im Kreis, in die Leere, oder sind gar nicht erst erkennbar. Auch die nach asketischen Idealen gefertigte Karte stellt selten eine Hilfe dar, und so verwandelt sich die agile Heldentruppe mitunter in eine Seniorengruppe, die kurzsichtig und desorientiert umhertapert.
Es ist dieser Aspekt, der Pier Solar and the Great Architects an der falschen Stelle so unzeitgemäß erscheinen lässt, dass der HD-Anstrich tendenziell deplatziert wirkt. Die nun handgezeichneten Hintergründe sehen fantastisch aus, lassen die vielfältigen Schauplätze um ein vielfaches stimmungsvoller erscheinen, und der Soundtrack trägt sein Übriges zur Atmosphäre bei. Durch den gleichzeitigen Erhalt der animierten Sprite-Grafiken entsteht allerdings ein Gesamtbild, das inkonsequent und unentschlossen wirkt. Diesen Eindruck unterfüttert der dritte anwählbare, als HD+ bezeichnete Modus, für den die viel Designfinesse verstrahlenden Pixelgebilde augenscheinlich durch die automatisierte Nachzeichnungsfunktion von Adobes Illustrator gejagt wurden und sich dementsprechend als unkonturierte Matschhaufen präsentieren. Warum die HD-Fassung nicht in jeder Hinsicht überarbeitet oder die Kombination zweier Grafikstile selbstbewusst als gestalterische Entscheidung präsentiert wurde, erschließt sich nicht. Auch wenn der optionale Wechsel zwischen den Grafik- und Klangmodi während des laufenden Spiels sich durchaus als interessant erweist.
Dieses Zaudern wird der Liebe zum Detail nicht gerecht, die deutlich spürbar in jedem der in sechs Sprachen übersetzen Dialoge durchscheint. Die drei jugendlichen Hauptfiguren, die zunächst nur nach einem Heilmittel für den schwerkranken Vater des Protagonisten suchen und sich schneller, als es ihnen lieb ist, in einem andauernden Verwirrspiel um die untergegangene Zivilisation der Boaman widerfinden, wachsen mit ihren Erfahrungen und damit über ihre initial auf wenige Charaktereigenschaften begrenzten Rollen hinaus. Allen voran Alina, die Älteste des Dreiergespanns, die sich von ihrem cholerischen Ziehvater abnabelt und trotz adoptionsbedingter Identitätskrise als zuverlässige und willensstarke Mitstreiterin präsentiert.
Fast noch mehr füllen hunderte Statist_innen die mehrere Kontinente umspannende Welt mit Leben, denn so begrenzt die Interaktionsmöglichkeiten mit ihnen für gewöhnlich auch sind, verraten sie durch ihre zwei- bis vierzeiligen Monologe verblüffend viel über die Gepflogenheiten der jeweiligen Region und sich selbst.
Diese konzeptionelle Sorgfalt manifestierte sich ursprünglich auch in der Verkaufsversion des Spiels, da diese zum Teil mit zahlreichen Extras ausgeliefert wurde und das kindliche Gefühl, ein Spiel zum ersten Mal in den Händen zu halten, die heftdicke Anleitung gebannt zu studieren und schließlich den klobigen Datenträger fast ehrfürchtig in den Konsolenschacht zu stecken, bei vielen Käufer_innen erneut geweckt haben dürfte.
Der Steam-Version geht, ebenso wie den bereits erschienenen oder geplanten Portierungen für andere Systeme, viel von diesem nostalgischen Zauber ab. Ein Spiel, dessen wichtigstes Alleinstellungsmerkmal die Veröffentlichung für ein vermeintlich ausgedientes Gerät war, auf elektronischem Wege zugänglich zu machen, ist zwar ein Zugeständnis an die Nutzer_innen heutzutage gängigerer Vertriebswege, aber riskant. Zumal bereits eine Neuauflage des Moduls angekündigt wurde. Pier Solar HD ist damit der rüstige Rentner, der auf einer Ü30-Party das Tanzbein schwingt. Verblüffend elegant und agil, aber irgendwie fehl am Platze.
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