Ehrlich währt am längsten.
Alte Videospiele nach vielen Jahren noch einmal zu entdecken gleicht in den meisten Fällen dem Aufwärmen von Kartoffelpüree in der Mikrowelle. Eine eklige Hautschicht verdeckt die alte Stärke und nach ein paar Gabelspitzen tut man den Rest dann lieber weg. Rare Replay ist die vielleicht erste Videospielsammlung, die sich dieses Dilemmas vollends bewusst ist. Dreißig Spiele aus dreißig Jahren, teils großartig, teils schräg, teils Schrott. Und keines, bei dem ich mich nicht erst durch eine mehr oder weniger dicke Hautschicht fressen müsste. Doch Rare beweist, dass sie trotz dieses Makels noch ein schmackhaftes All-You-Can-Eat-Buffet zaubern können, dessen Beilagen die eigentliche Attraktion sind.
Mag für viele der eigene dreißigste Geburtstag eher von negativen, midlifecrisigen Gefühlen begleitet sein, hat Rare richtig Bock, diesen zu feiern. Schon das eigens für die Sammlung komponierte Intro heißt mich auf so entwaffnende und charmante Weise willkommen, dass ich vielmehr das Gefühl bekomme, die nächsten Stunden einem Kindergeburtstag beizuwohnen und dabei selbst noch einmal ganz Kind sein zu dürfen. Hier wurden nicht einfach ein paar alte Topseller auf einen Haufen geworfen, sondern jeder Titel so aufbereitet, dass er zum Entdecken und Wiederentdecken einlädt. Allein im Menüdesign, mit all den Vorhängen, Übergängen, Melodieschnippseln und Zeichnungen steckt so viel Liebe drin, dass mir das Herz freudeplatzend an die Decke springt. Einfach, weil es das vollkommene Gegenteil von dem ist, was ich von Spielekompilationen gewohnt bin.
Was Rare Replay so einzigartig macht, ist nicht nur seine überraschend aufwendige Präsentation. Es ist auch die Art und Weise, mit der es mich dazu bringt, selbst die heute fast unspielbar wirkenden Kamellen aus den 80ern auszuprobieren. Im Wissen um die veränderten Spielgewohnheiten spendiert das englische Studio seinen älteren Kreationen einen „Schnappschüsse“ genannten Modus. Hierbei werde ich ohne Umschweife mit einer konkreten Zielvorgabe ins Spielgeschehen geworfen und muss etwa eine bestimmte Punktzahl erreichen oder eine Aufgabe unter Zeitdruck bewältigen. So erhalte ich kurze Einblicke in verschiedene Abschnitte eines Titels, die mir in ihrer Summe einen hinreichenden Eindruck des jeweiligen Spielgefühls vermitteln und dabei so schnell vorbeigehen, dass sie gar nicht erst anfangen können zu nerven.
Wie eine rote Linie zieht sich dabei eine klar erkennbare Handschrift durch das unwahrscheinlich vielfältige Oeuvre. Kaum ein Rare-Titel, der nicht gespickt ist mit Humor und kuriosen Charakteren, die so gar nichts mit der Dark’n’gritty-Dekade gemein haben wollen, welche die letzte Konsolengeneration beherrschte. Dennoch erkennt man auch wiederholt die jeweiligen Trends ihrer Entstehungszeit wieder, die Rare in der Regel nicht selbst setzte, sondern ihnen lediglich folgte. Dass Battletoads stark von den Turtles inspiriert wurde und Banjo-Kazooie an Marios ersten 3D-Autritt auf dem N64 erinnert, daraus machen auch die Entwicklerinnen und Entwickler keinen Hehl. Dass sich hingegen keines der Spiele je wie ein müder Abklatsch spielte, ist eine der großen Leistungen und Erkenntnisse, die diese Anthologie offenbart.
Moderne Motivationsfaktoren, wie ein bodenloses Fass Errungenschaften und das Freischalten von Bonusmaterial, sollen darüber hinaus das Gesamtpaket abrunden. Doch während letzteres in der Regel bedeutet, dass zu abgefilmten Monitoren mit Gitternetzmodellen ältere Herren davon erzählen, wie geil und revolutionär sie damals waren, geht Rare auch hier mehrere Schritte darüber hinaus. Denn neben den Tonnen an Konzeptzeichnungen und Artworks, den zahlreichen, teils nie zuvor gehörten Musikstücken, geben vor allem die Videos einen viel persönlicheren, aufrichtigeren und humorvolleren Blick hinter die Studiokulissen frei, als es in dieser Branche üblich ist.
Hier hat kein Produktmanager irgendwem in den Mund gelegt, was er faseln soll. Es geht tatsächlich um die Menschen hinter den Spielen, nicht um Verkaufsrekorde und Selbstbeweihräucherung. Individuelle Anekdoten von Menschen, die stolz auf das Erreichte sind, aber auch um ihre Einflüsse und Fehltritte wissen. Es gibt sogar einen eigenen Bereich mit Ausschnitten und Kommentaren zu Titeln, die es nie zur Veröffentlichungsreife gebracht haben. Rare Replay beschönigt nichts, sondern zeichnet die eigene Historie erfrischend ehrlich nach. Es ist wie ein gutes Mixtape, dessen Kunst aus mehr besteht als die Zusammenstellung einer Spotify-Playlist mit einem Dutzend Songs, die man stark findet. Jedes ausgewählte Lied oder Spiel ist Teil einer größeren Geschichte und diese so geradlinig und offen zu präsentieren, das macht man nur, wenn man jemanden richtig gern hat. Und wenn man es ernst meint.
“I wanted it to look kind of Disney-like, but I wasn’t anywhere near a good enough artist for that.”
Deshalb geht es auch nicht darum, jedes einzelne Spiel zu bewerten oder sich das Maul darüber zu zerreißen, was der Sammlung fehlt und was stattdessen besser rausgeflogen wäre. Denn Rare Replay macht genau das, was eine Rückschau auf dreißig Jahre Studio-, oder besser noch, auf dreißig Jahre Videospielgeschichte machen sollte: Es erzählt. In jedem Titel, jeder Zeichnung, jedem Ton und jedem Video steckt Persönlichkeit. Etwas, das die anderen großen Studios, die einen ähnlich langen Zeitraum existieren, längst verloren haben. Es zeigt die eigene Version des langen Weges, den Videospiele bereits hinter sich haben und ist in erster Linie für all jene spielhistorisch Interessierten bestimmt, deren Hunger allein mit dem Verzehr der Hautschicht nicht gestillt werden kann.