Der Bad Boy unter den Rennspielen.
Dirt Rally ist das beste Rennspiel aller Zeiten und das sagt nicht irgendwer, das sage ich. Sonst bisher niemand, aber auch nur nicht, weil die Welt gern ihre Augen vor der harten Realität verschließt. Denn Dirt Rally ist keine sterile Rennsimulation, in der man seine auf Hochglanz polierte Schwanzverlängerung vor dem Eiffelturm von Pisa fotografieren kann und mit seiner lederverkleideten Pferdekutsche darüber hinaus nur über säuberlich eingezäunte, lasergescannte Rennpisten saust. Dirt Rally ist auch keines dieser schnellen und furiosen Dudebro-Gymkhana-Racer, die einen alle zwei Minuten darüber in Kenntnis setzen, wie geil man die Räder quietschen lässt und wie viele neue Facebookfans der letzte hochgeladene YouTube-Clip des eigenen 4. Platzes auf der Kinderkartbahn akkumulieren konnte. Dirt Rally ist das erste Spiel, das nach dem Tod der Rally-Legende Colin McRae wieder dessen Namen im Titel verdient gehabt hätte.
Aber wer bin ich schon, darüber zu urteilen? Habe ich alle Rennspiele seitdem gespielt? Oder wenigstens alle Rallyspiele? Habe ich überhaupt einen Führerschein oder besteht meine gesamte Kraftfahrzeug-Erfahrung aus dem gescheiterten Versuch, einen uralten, durchgerosteten Wartburg auf einer unbefahrenen Landstraße nahe der Mecklenburgischen Seenplatte gerade zu halten? Fragen, die keiner Antwort bedürfen, wenn man erst einmal selbst Dirt Rally spielt. Fragen, die niemanden mehr interessieren, wenn man eigenhändig seinen ersten Abhang in der griechischen Gebirgslandschaft hinunter plumpst, sich unzählige Male überschlägt und eine Nachtfahrt durch einen verregneten, walisischen Nadelwald mehrere Kilometer mit defekten Frontscheinwerfern noch ins Ziel bringt. In diesen Momenten denkt man nicht mehr an andere Rennspiele. Oder daran, ob der Rezensent vielleicht doch mal einen Führerschein hätte machen sollen, um mitreden zu dürfen. Man will einfach nur weiterfahren, egal, ob mit vier oder nur mit drei Reifen, wenn einer mal wieder an einem scharfen Stein in der Kurve geplatzt ist.
„Stop drücken und zurückspulen – geht net!“ war lange Zeit die Maxime älterer Codemasters-Rallyspiele und für kurze Zeit auch eine zitierbare Zeile aus dem Song Heißer von D-Flame. Irgendwann konnte man dann dank immer mehr Fahrhilfen und einem neu entdeckten Hang zum Arcadigen die Rennen fast allein per durchgedrücktem Gaspedal gewinnen. Und sollte man selbst das nicht hinbekommen, konnte man kleine Zeitreisen in die Vergangenheit unternehmen, um Fahrfehler wieder auszubügeln oder – wenn man nur lange genug die Rückspultaste gedrückt hielt – das Kennedy-Attentat verhindern. In Dirt Rally fährt man zwischen 4 und 10 Minuten am Stück auf übelsten Straßenverhältnissen durch Schnee, Eis, Schotter und Geröll, stets komplett am Limit, und muss dabei auch noch die Karre halbwegs heil nach Hause bringen. Die verursachten Schäden daran nimmt man nämlich zwischen den Etappen mit in die nächsten Rennen, weil zwischendurch nur die Zeit bleibt, das Allergröbste zu reparieren. Dann quietschen die Bremsen eben über mehrere Abschnitte hinweg, weil sie Flüssigkeit verlieren oder die Motorhaube qualmt, weil der Kühler mit einem Felsen betrunken rumgeknutscht hat. Am nächsten Renntag fühlt man sich dann auch entsprechend hundeelend, wie mit 16 nach dem Scheunenfest.
Die ersten Stunden mit Dirt Rally sind von solchen Momenten des Scheiterns geprägt, doch sind diese dabei so hartnäckig motivierend, wie Detlef D! Soost in der zweiten Popstars-Staffel. Der Rally-Sport kennt eben keine Ideallinie und neckt einen mit häufig wiederkehrender Orientierungslosigkeit, wenn man nicht neben der Konzentration auf Gas, Bremse und Lenkung auch ein Ohr für seinen Beifahrer übrig hat, der einem selbst dann noch in Seelenruhe die Kurven ansagt, wenn man mit 120km/h unaufhaltsam auf eine Böschung zurast. Da wäre es schon wünschenswert, wenn dieser bis zur finalen Version ruhig etwas realistischere und menschlichere Züge spendiert bekommt (siehe Video).
“WHAT ARE YOU DOING MAN?!”
Wie jetzt, finale Version? Das ist natürlich kein besonders feiner, journalistischer Stil, erst im fünften Absatz damit rauszurücken, dass Dirt Rally, das beste Rennspiel aller Zeiten und Welten, eigentlich noch gar nicht fertig ist, sondern bis Ende des Jahres zunächst im Early-Access-Brutkasten quietschend reifen soll. Würde das nicht dranstehen, hätte ich davon jedoch kaum etwas bemerkt, denn technisch ist das Spiel bereits jetzt sauberer, als es Assassin’s Creed: Unity je sein wird. Auch inhaltlich wird mit drei kompletten Rallys (Griechenland, Wales und Monte Carlo) und dem gerade hinzugekommenen Hillclimb-Modus für besonders Lebensmüde auch genug geboten, um sich stets aufs Neue herausfordern und das Genick brechen zu können. Dass sich die Autos dabei durch die verschiedenen Antriebsarten und Baujahre so unterschiedlich verhalten, wie Jim Carrey in Ich, beide und sie, verhindert zudem eine zu rasch entstehende Komfortzone beim Spielen. Online kann man sich ebenfalls bereits mit anderen messen und deren Zeiten jagen, an denen man letztlich auch ablesen kann, ob man nicht doch lieber wieder mit Matchbox spielen und die richtige Action den Großen überlassen sollte.
Dass Entwickler Codemasters Dirt Rally ohne Vorankündigung und Preview-Brimborium rausgehauen hat, fügt sich insgesamt wunderbar in das Bild eines Rennspiels ein, das sich um nichts anderes als das schert, was auf der Strecke passiert. Ein Rennspiel, das seine Stärken für sich selbst sprechen lässt, statt blendende Lensflare-Effekte über aufgehübschte Rendertrailer zu legen und mit Preorder-Boni die treuen Schäfchen aus dem Stall zu locken. Es ist puristisch, fokussiert und gnadenlos. Der böse Junge in einer sonst so glatt gestriegelten und handzahmen Rennspielboygroup. Einer, der auf Konventionen pfeift und sein eigenes Ding durchzieht, auch wenn die breite Masse ihn dafür ablehnt. Einer, der mich durch seinen schlechten Einfluss dazu bewogen hat, mir am Pfingstmontag ein gebrauchtes, klappriges Lenkrad zu kaufen, um noch weiter am Limit fahren zu können und vielleicht irgendwann das Reh zu erwischen, das mir bei einer Nachtfahrt durch Wales fast vor die Stoßstange lief. Nun habe ich selbst Dreck am Stecken und bekomme ihn nicht mehr abgewaschen. Denn Dirt Rally macht eines unmissverständlich deutlich: Stop drücken und zurückspulen – geht net!