Amnesia: A Machine for Pigs
“In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine.” (Karl Marx)
Die klügste Designentscheidung hinter Penumbra und Amnesia: The Dark Descent war es, dem Spieler das Licht zu nehmen. Während sich das Horrorgenre zumeist darauf konzentriert, den Vorrat an Waffen, Heilmitteln und Inventarplatz zu beschränken, um ein Gefühl von Furcht und Unterlegenheit zu konstruieren, machte Frictional Games das Lampenöl zur knappen Ressource. Ein Angriff nicht nur auf den Avatar des Spielers, der in der Dunkelheit zunehmend dem Wahnsinn verfällt, sondern auch auf den Spieler selbst, der im Gegensatz zur Spielfigur unverwundbar vor dem Monitor sitzt. Die Hiebe des Monsters können ihn nicht verletzen, wohl aber die Dunkelheit, die im Spiel die gleichen Zustände von Angst und Orientierungslosigkeit auslöst, wie in der Realität.
Diese Mechanik machte Amnesia: The Dark Descent zu einem der besten Horrorspiele überhaupt. Diese Mechanik wurde in Amnesia: A Machine for Pigs entfernt.
Spätestens hier sollte klar sein: A Machine for Pigs ist ein anderes Spiel, als die Amnesia-Marke suggeriert. Die Handschrift Dan Pinchbecks, dessen Debüt Dear Esther zum Vorzeigekind der Notgame-Bewegung wurde, ist mehr als deutlich zu erkennen. So deutlich gar, dass “Dear Esther: The Dark Descent” wohl der treffendere Name für die Kooperation zwischen Frictional Games und The Chinese Room gewesen wäre.
Der zweite Amnesia-Teil ist zwar weiterhin ein Horrorspiel und arbeitet die Liste gruseliger Klischees akkurat ab – blutige Kadaver, geisterhafte Kinder, unförmige Monster und knarzende Geräusche – doch mit Ausnahme des phänomenalen Sounddesigns wirkt vieles davon halbherzig, ja beinahe aufgesetzt. Wer Amnesia vor allem deshalb gespielt hat, um seine YouTube-Zuschauer mit übertriebenen Angstschreien zu unterhalten, der dürfte maßlos enttäuscht sein.
Aber verlassen wir die Defizitperspektive. Da wären die Räume – diese Räume! Das Team um Dan Pinchbeck hat ein fantastisches Auge für Bild- und Raumkomposition: Ein viktorianischer Salon, ein Badezimmer, eine Kirche und dunkle Schornsteine, die, in den Nachthimmel ragend, den Mond verdecken. Ein bisschen Steampunk mag dabei sein, doch die Fleischfabrik im London des Jahres 1899 ist glaubwürdig und dicht gebaut. Perfekt ausgesuchte Gemälde flämischer Maler zieren die Wände des Wohnhauses und schaffen im Zusammenspiel mit Beleuchtung, Mobiliar, Geräuschen und großartiger Musik eine unheilvolle Atmosphäre, die gerade in der ersten Stunde unglaublich intensiv ist. Bemerkenswert ist vor allem, wie logisch sich die Raumgestaltung in die Welt fügt. Die Anlage aus Haus, Lieferrampen, Büroräumen, Ställen, Laboren und unterirdischen Maschinenräumen ist nachvollziehbar und in ihrer Funktion genau dort vage gehalten, wo die Fantasie sie leicht zu schauderhaften Gebilden vervollständigen kann. Das gilt insbesondere für den fantastischen Querschnitt der Fabrik, der die Levelübergänge illustriert und der, obwohl er vorgibt alles über das nächste Areal zu verraten, in Wahrheit Ängste und Vorahnungen schürt.
Weiß noch jemand, worum es beim ersten Amnesia-Teil ging? War es Rache, Reue oder gar Liebe? A Machine for Pigs erzählt mit der üblichen Brotkrumenspur aus Voiceover-Sequenzen und zufällig versteckten Dokumenten irgendetwas von Kindern und Maschinen und Wahnsinn und verheddert sich dabei gleich mehrfach. Logisch, dass der Protagonist seine Gedanken in perfekter Lovecraft-Prosa notiert, auch wenn er gerade um sein Leben rennt.
Eine kleine Anmerkung am Rande: Ich bin es fürchterlich leid, dass die Rettung von Familienangehörigen in Videospielen allerlei Emotionen auslösen soll. Ich kenne die verdammten Gören nicht! Wenn es nicht genug erzählerischen Raum gibt, eine glaubhafte Beziehung zu Spielfigur und SpielerIn aufzubauen, dann motiviert mich die Entführung oder Ermordung eines Frau/Onkel/Sohns zu gar nichts.
Doch was A Machine for Pigs von The Dark Descent unterscheidet, ist nicht die Geschichte, sondern die Prominenz seiner Themen. Der metaphernschwere Name deutet bereits an: Unter dem Überbau des Horrorspieles erzählt der Abstieg in die Fabrik nicht von Mord und mutierten Schweinemonstern, sondern vom Proletariat, von Armut, Ausbeutung, Religion, Revolution und Kinderarbeit. Die monströse Maschinerie der Industrialisierung mit ihren gigantischen Schwungrädern, Heizkesseln und Kolben, ist nicht nur akustisch wie visuell ein eindrucksvoller und unverbrauchter Hintergrund für eine Horrorgeschichte. Sie ist vor allem Bühne für vielfache Kritik am Verhältnis Mensch und Maschine und zeichnet ein Szenario, in dem Technologie zum Selbstzweck geworden ist, in dem die ursprünglichen Nutznießer widerspruchslos jene Hebel betätigen, die betätigt werden müssen. (Sehe ich da selbstreflexive Kritik am eigenen Rätseldesign?)
A Machine for Pigs dürfte somit als erstes marxistisch-leninistisches Horrorspiel in die Geschichte eingehen. Dass dafür die Tugenden von Penumbra und Amnesia geopfert wurden, lässt sich verschmerzen. Im Gegenteil — besonders der Verzicht auf Schockeffekte ermöglicht einige ungewöhnliche und eindringliche Perspektiven, die im Gedächtnis bleiben. Lediglich die letzten Passagen trüben meine Euphorie. Eine ungesunde Mischung aus generischen Tunneln, ärgerlichen Monstern und einem ganzen Schwall neuer Themen, philosophischer Fragen, Metaphern und narrativer Sprünge prasselt auf den Spieler herein und hinterlässt Redebedarf wie Achselzucken. Vielleicht hat sich The Chinese Room mit Amnesia: A Machine for Pigs und der parallelen Arbeit an ihrem nächsten Projekt Everybody has gone to the Rapture dann doch etwas übernommen.
Dennoch ist A Machine for Pigs ein gelungenes Experiment und zeigt nebenbei, wie gewinnbringend es sein kann, Spielereihen nicht als Marken oder Intellectual Property zu begreifen, die eisern gegen jede Form von Veränderung verteidigt werden müssen. Pinchbecks Interpretation von Amnesia mag mit der Tradition brechen, die Spiele aus dem Hause Frictional Games vorgelebt haben, doch könnte sie ihrerseits die Tradition nachhaltig bereichern. Das nächste GTA hätte ich dann gerne von BioWare – gleich nach einem Ridiculous Fishing von Dennaton.