Analogue: A Hate Story
Bis ich Christine Loves erstes kommerzielles Projekt Analogue: A Hate Story nicht ein zweites Mal durchgespielt hatte, wusste ich wirklich nicht, was ich schreiben sollte. Christine Love hat mich mit Digital: A Love Story und Don’t take it personally, babe als eine der interessantesten und zugänglichsten Autoren von Interactive Fiction begeistert. Analogue dagegen ist komplex, unzugänglich, zeigt wenig von Loves Humor und ist mit 15$ verhältnismäßig teuer.
Nach dem zweiten Durchspielen wird alles klarer: Analogue ist ein erschütternd starkes Werk über koreanische Geschichte, Emanzipation, Moral und Einsamkeit. Es ist unzugänglich, komplex, humorlos — und wichtig.
Christine Loves Spiele sind immer auch Geschichten über ein Interface. Digital war in gleichen Maßen Liebesgeschichte und Liebeserklärung an Commodore und Bulletin Boards; Don’t take it personally nicht nur ein Gedankenspiel über Privatsphäre, sondern auch ein Versuch, soziale Netzwerke zu verstehen. Analogue ist eine Geschichte über die Geschichten, die uns Datenbanken erzählen können.
Als Forscher einer koreanischen Weltraumorganisation docken Spieler in Analogue an ein verlassenes, lange in Vergessenheit geratenes Raumschiff, das eine Kolonie gründen sollte. Das Ziel ist es, zu verstehen, was mit dem Schiff passiert ist und wer oder was für den Tod einer ganzen Kolonie verantwortlich war. Was eine Dead Space-mäßige Horrorgeschichte hätte sein können, ist stattdessen ein Wühlen nach Antworten in einer Datenbank von Tagebucheinträgen der verstorbenen Schiffsbewohner.
Per Texteingabe via Konsole können dazu eine von zwei unterschiedlichen AIs aktiviert werden: die freundliche *Hyun-Ae und die weitaus sachlichere *Mute. Das Spiel selbst besteht aus nicht viel mehr, als dem Lesen besagter Logbücher und Gesprächen mit den AIs.
Im Vergleich mit Christine Loves ersten Spielen wirkt das äußerst trocken und verwirrend zugleich. Es ist schwer, die Fülle an Figuren, die in den Tagebüchern vorgestellt werden und die man selbst im Spiel nie zu Gesicht bekommt, im Kopf zu behalten.
Nach und nach erschließt sich aber durch die Einträge ein faszinierender, fragmentierter Blick auf die Gesellschaft des Raumschiffs: Nach einer Katastrophe, die nie wirklich geklärt wird, sind die aufgeklärten Raumfahrer zu einem patriarchalischen Imperium geworden, das die Werte der koreanischen Joseon-Dynastie emuliert. Ist das erstmal verstanden, folgt Klarheit.
Analogue wird zum Spiel, in dem sowohl Spieler aus auch Spielcharakter versuchen, eine archaische Gesellschaft zu verstehen. Wie ist das genaue Wissen um Technologie verloren gegangen? Wie geht der Machtkampf zwischen Kims und Smiths, den beiden Adelshäusern des Schiffs, aus? Wer ist The Pale Bride? Was verschweigen die AIs? Und — vielleicht am interessantesten — wie wirkt sich eine solche Gesellschaft auf Geschlechterrolen aus?
Je tiefer man in den Archiven gräbt, desto verstörender und erschreckender wird das daraus entstehende Bild. Und je mehr Zeit man mit den beiden künstlichen Intelligenzen verbringt, desto deutlicher wird, dass beide den Spieler auf ihre Seite ziehen wollen.
Analogue benutzt mit der Kombination aus AIs-Erzählung und “historischen” Dokumenten eine faszinierende Erzählform — etwas was Shii als Unreliable Librarian bezeichnet hat, den unverlässlichen Bibliothekar, der es mit der Neutralität und der Wahrheit nicht zu genau nimmt. Gleichzeitig spielt Analogue mit der Erwartung an konventionelle Spiele. Um nämlich alle fünf möglichen Enden zu erreichen, müssen die Regeln des Spiels gebrochen, die Linearität des Genres in Frage gestellt werden.
Das klingt alles unglaublich verkopft — und in gewisser Weise ist es das auch. Für mich ist Christine Love aber eine der wichtigsten aktuellen Game Designerinnen. Jedes ihrer Werke zeugt vom Versuch, zur Diskussion anzuregen, bestimmte Dinge zu verstehen und sie in Spielform auszudrücken. Das ist selten. Analogue hat mich verwirrt, gefordert und erschüttert. Ich hoffe, Love ist es vergönnt, einen ähnlichen Effekt in vielen anderen Spielern auszulösen.