Blast from the Past: Gothic
“Ich bin Diego.”
“Ich bin…”
“Mich interessiert nicht, wer du bist.”
Es ist ein gewaltiges Missverständnis, dass der Protagonist von Gothic als namenloser Held bekannt geworden ist. Die zwei Worte, die er herausbringt, bevor er von Begrüßer Diego rüde unterbrochen wird, deuten etwas anderes an. Kein “Ich erinnere mich nicht”, kein “Ich weiß es nicht”, oder deren Verkürzungen, sondern “Ich bin”. Er hat wohl schon einen Namen, bloß interessiert sich niemand dafür. Niemand hat auf ihn gewartet. In der Hierarchie der Strafkolonie Khorinis ist er nicht etwa der große Held, sondern einfach der Neue. Seine Vergangenheit ist irrelevant, seinen Platz in der rauen Hackordnung muss er sich erst verdienen.
Ähnlich verhält es sich mit Gothic selbst. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich es das erste Mal spielte. Jedenfalls spät genug, um es in irgendeiner billigen Best-of-Whatever Sammlung erstanden zu haben. Es war nicht das erste Spiel meiner Laufbahn als Geek, wie verschwommene Erinnerungen an einen Klempner, einen Igel und einen langarmigen Hüpfbold namens Ristar auf dem NES und Mega Drive meiner Brüder belegen. Noch war es das erste große Rollenspiel an dem ich mich versuchte, ein Platz, den das später erschienene Morrowind einnimmt. Ich habe nicht auf Gothic gewartet, es hat sich den Platz in meiner persönlichen Historie erkämpfen müssen.
Entscheidend für seinen Erfolg war dabei das Gefühl, erstmals eine vollständige, eigenständige Welt zu erleben, deren Existenz nicht an die meine gebunden zu sein schien. Wo andere Titel mich als Spieler zum Zentrum ihres Universums machen, ist Gothic bemüht, mir meine Irrelevanz bewusst zu machen. Was mit der Rollenzuweisung als Niemand beginnt, setzt die Umgebung gekonnt fort: Hier bewege ich mich nicht durch Fassaden und Fantasythemenparks, deren Komparsen mich stehts stocksteif am selben Ort erwarten. Aufbau und Grenzziehung meiner Umwelt sind mehr oder weniger logisch, ihre Einwohner kochen, schmieden, rauchen und schlafen, und aus irgendwelchen Gründen tritt In Extremo bei ihnen auf.
Wo andere Rollenspiele sich mit einer Kombination von Zufallsgenerierung und Handgebautem an möglichst großen, aber auch weitgehend leeren Spielwelten versuchen, ist Gothic bewusst klein, detailliert und voller Leben gehalten – okay, vielleicht war es auch ein Versehen, wenn ich die misslungenen Gigantofortsetzungen bedenke. Die spürbare Endlichkeit des Spiels verändert dabei völlig den Umgang mit seinem Inhalt. Wenn mir hier die leichten Gegner ausgehen, kann ich nicht einfach ans andere Ende der Welt laufen, ein paar Stunden lang Ratten jagen und als Superheld zurückkommen. Jeder Gegner und jede Truhe in Gothic sind Teil eines begrenzten, und damit wertvollen Ressourcenpools.
In Kombination mit dem leicht durchschaubaren Erfahrungspunktesystem macht das Fortschritt in Gothic zu einer Art Puzzle: Die Scavenger und Blutfliegen am Fluss reichen für einen Stufenaufstieg. Die Punkte werden in Stärke investiert, damit ich das Schwert, dass ich von der Questbelohnung kaufe, auch benutzen kann und vielleicht endlich gegen die Razor am Pass ankomme. Innerhalb seiner magischen Kuppel kennt Gothic keine festen Grenzen, wo ich hingehen kann und wo nicht, hängt davon ab ob ich mit den örtlichen Feinden klarkomme. Weil sich das nur im Selbstversuch überprüfen lässt und das Kampsystem zudem eher bescheiden ausgefallen ist, wird in Gothic gestorben. Sehr oft. Das Resultat des starken Kontrasts zwischen der grausamen Wildnis und der relativen Sicherheit der belebten Lager war, dass ich heimelige Gefühle entwickelte. Es war eine Art Lagerfeuerromantik, wie ich sie erst in der Stalker-Reihe ähnlich wiederfand.
In meinem Umkreis hielt sich damals das Gerücht, das es ein alternatives Ende für Gothic gäbe, wenn es in unter fünf Stunden durchgespielt wird. Der Gedanke es zu versuchen, wäre mir nicht gekommen. Ich genoss es zu sehr, als Ausgleich durch das alte Lager zu laufen, mein Heldentum in den bestehenden Rhythmus des Spiels einzufügen, indem ich abends zu meiner Bruchbude zurückkehre und morgens weitermache. Der Buddler, der nach dem Aufstehen von der Seite ins Bild stapft, hat sich bis heute in mein Gedächtnis eingebrannt.
Natürlich bleibt Gothic trotz allem Puppenspiel, aber eben eines, in dem ich vor allem als Störfaktor auftrete. Etwa, wenn Hausbesitzer mich aus ihren vier Wänden schimpfen, die lokale Fauna auf Annäherung mit Drohgebärden reagiert oder ich Questgeber verprügeln muss, um zu bekommen, was ich will. Auch das Spiel selbst zeigt sich widerwillig und stellt Komfortfunktionen wie Schnellreise und Karten nur langsam zur Verfügung. Erfolg erfolgt scheinbar gegen seinen Willen.
Dass ich es schließlich bin, der die magische Barriere rund um die Kolonie zerstört, liegt nicht daran, dass es so in den Sternen stand, sondern daran, dass ich die ehrgeizigste Kompetenzbestie in diesem Tal bin. Der Sieg wird durch die Herausforderung nur umso süßer. Heute sehe ich darin eine Erkenntnis über meinen Spielegeschmack – Dark Souls, Super Meat Boy, Spelunky – damals wirkte die raue Welt von Gothic einfach nur erwachsen und realistisch auf mich. Das Fluchen und Ansätze nackter Haut haben bestimmt auch geholfen.
In der Serie Blast from the Past berichten Superlevel-Autorinnen und -Autoren sowie gelandene Gäste über prägende Spiele und Spielerlebnisse aus der Kindheit und Jugend.
Joe Köller studiert tagsüber Anglistik und Germanistik an der Uni Wien und leitet nachts Haywire Magazine, schreibt bei Video Game Tourism oder hilft bei Critical Distance aus. Schlaf hat er für Ende 2015 eingeplant.