Blast from the Past: Metal Gear Solid
Es müssen die Sommerferien im Jahr 2000 gewesen sein. Wladimir Putin war gerade mal einige Monate im Amt, die örtlichen Kinos zeigten Filme wie “High Fidelity” oder “Scream 3” und ich war auf dem Weg zu Tante und Onkel. Ferien. Ferien, in denen mein Onkel eines Abends vorschlug, mal dieses neue Spiel anzutesten, das er sich aus der Videothek geliehen hatte: Metal Gear Solid. Ein Name, der inzwischen Millionen von Fans wie mich über Jahrzehnte begleitet und ein derart wahnsinniges Universum aufgespannt hat, dass es vermutlich einfacher wäre, sich in das Gesamtwerk von Johann Sebastian Bach einzuhören, als diese Welt in ihrer ganzen Tragweite zu durchschauen. Doch an diesem Abend spielte das alles noch keine Rolle. Viel wichtiger war, wie wir auf Shadow Moses unbemerkt an den FOXHOUND-Truppen vorbei gelangen würden.
Meine Sozialistion mit modernen Action-Adventures wurde von Spielen wie “Tomb Raider” oder “Resident Evil” geprägt. Spiele, die mir gleich zu Beginn großkalibrige Pistolen in die Hand drückten und hier und da ein wenig Kanonenfutter auf die Strecke warfen. Doch Metal Gear Solid geizte mit scharfer Munition – und stellte mir trotzdem eine komplette Privatarmee in den Weg. Plötzlich war Improvisation gefragt, denn anders schien man dieser asymmetrischen Prämisse kaum Herr zu werden. Ein Mittel, das mir zu dieser Zeit ehrlich gesagt eher fremd war, führten die meisten Spiele doch auf direktem Wege von A nach B. Zur Not eben mit der Brechstange. Dass mich dieses Spiel nach Jahren des Dauerfeuers plötzlich für diskretes und gewaltloses Vorgehen belohnte, stelle an jenem Abend mein Verständnis von Videospielen nachhaltig auf den Kopf. Mein nervös zuckender Zeigefinger wich dem unruhigen Blick auf das Radar. Denn eines wurde mir sehr schnell klar: Auf meinem Weg in die von Terroristen besetzte Abrüstungsbasis war Fantasie unentbehrlich. Ich versteckte mich in Pappkartons, schlüpfte durch Lüftungsschächte und lockte Truppen durch Klopfgeräusche von ihren Positionen weg. Ich ergründete Möglichkeiten, die mir andere Spiele bisher nie gegeben hatten.
Der besagte Abend in den Sommerferien sollte damit enden, dass ich mich zu später Stunde mit schweren Augen gen Gästebett bewegte. Mein Onkel nahm davon kaum Notiz. Die Infiltration von Shadow Moses hatte ihn mittlerweile derart fest im Griff, dass für ihn nicht daran zu denken war, eine Pause einzulegen. Es sollte danach einige Zeit vergehen, bis mir auf dem Schulhof endlich eine eigene Kopie von Metal Gear Solid in die Hände fiel. Die Begehrlichkeiten auf dem Pausenhof hatten sich ohnehin längst verschoben. Man sprach über “Tony Hawk’s Pro Skater 2” oder “Conter-Strike” – aber nicht mehr über Metal Gear Solid. War es damals das taktische Gameplay, was mich sofort wieder in seinen Bann zog, so dürfte es heute vor allem Hideo Kojimas postmoderner Zauber und cineastischer Scharfsinn sein, der mich nachhaltig beeindruckt. Aspekte, die mich schon damals nicht einfach nur zum Umdenken zwangen, sondern in gewissen Momenten sogar dazu bewegten, das Medium Videospiel an sich zu hinterfragen. So sind meine Erinnerungen an Shadow Moses eng mit einem gewissen Boss-Kampf verknüpft, in dem der Antagonist plötzlich sehr genau über mich Bescheid weiß: »Du spielst gerne Castlevania, hm?«, mutmaßte Psycho Mantis in jener Szene kokett über meine persönlichen Präferenzen und lag damit natürlich völlig richtig. Dass für diese Information einfach die Memory Card der Playstation ausgelesen wurde, kam mir natürlich nicht direkt in den Sinn – genauso wenig wie der Kniff, den Controller-Port zu wechseln, um diesem psychokinetischen Spuk Einhalt zu gebieten. Es mag in dieser Zeit bereits andere Spiele gegeben haben, die sich in einem Anflug von ironischer Extravaganz auch mal selbst verhandelten. Doch derart radikal und stimmig hatte diesen selbstreflexiven Ansatz aus meiner Sicht bisher niemand zur Schau getragen.
Dass die Vision der Spielreihe konsequent von einer zentralen und eigenwilligen Figur wie Hideo Kojima fortgeschrieben wurde, ermöglichte Verknüpfungen, die mit anderen Reihen und ihren wechselnden Entwicklerstudios niemals möglich gewesen wären. Eine Erkenntnis, die sich bei mir erst einstellen sollte, als mich der “Blast From The Past” völlig unvermittelt an einer gänzlich unerwarteten Stelle traf. Genauer: Als sich der Kreis mit »Metal Gear Solid 4: Guns Of The Patriots« neun Jahre später schloss und nicht mehr nur die mechanische oder mediale Ebene des Videospiels an sich verhandelt wurde, sondern auch meine emotionale Beziehung zu dem Spiel Objekt von Kojimas psychologischen Kunstgriffen wurde. In »Guns Of The Patriots« hat es mich fast zehn Jahre nach den Ereignissen des ersten Teils wieder auf jenes verschneite Eiland verschlagen, das neben mir vermutlich auch Millionen andere Menschen mit ihrem persönlichen Debüt in Kojimas eigenartiger Welt assoziieren. Noch im Helikopter sitzend schläft Snake auf dem Weg nach Shadow Moses ein und beginnt von seinem einstigen Besuch in der Abrüstungsanlage zu träumen. Doch statt eine der abendfüllenden Zwischensequenzen abzufeuern, setzt mich das Spiel plötzlich wieder am Beginn von »Metal Gear Solid« aus und lässt mich noch einmal die Einführung des ersten Teils in originalgetreuer Playstation-Optik spielen. Erst, als ich wieder über den Lüftungsschacht in den Hangar gelange, schreckt Snake aus seinem Schlaf hoch und grummelt auf Otacons besorgte Nachfrage, ob alles in Ordnung sei: »I was having that dream again«.
Snakes Rückblende wurde plötzlich auch zu meiner eigenen, in der er mich nach so vielen Jahren völlig unverhofft an meine ersten Schritte in diesem bizarren wie faszinierenden Universum erinnerte. Nur wenig später landeten Snake und ich tatsächlich in Shadow Moses, das sich erstmals in HD-Grafik vor uns ausbreitete. Doch die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Die Anlage schien heruntergekommen und verlassen. Dieser Gegensatz aus Fortschritt (Grafik) und Verfall (Leveldesign) hat mich in seiner Funktion als verblüffend präzises Symbol der Vergänglichkeit derart beeindruckt, dass meine vielleicht stärkste Erinnerung an Metal Gear Solid untrennbar mit dieser Szene verknüpft ist.
Heute frage ich mich hin und wieder, ob Metal Gear Solid Videospiele ein wenig intelligenter gemacht hat. Für mehr Vielfalt hat Hideo Kojimas Playstation-Debüt, zumindest an den geistigen Epigonen der Folgejahre gemessen, in jedem Fall gesorgt. Neue Reihen wie “Hitman” oder “Splinter Cell” wurden zu millionenschweren Franchises aufgebaut und boten spannende Variationen von Kojimas Ansatz, die ich ohne Metal Gear Solid vielleicht nie gespielt hätte. Geblieben ist vor allem meine Vorliebe für das Genre – und die Erkenntnis, im Zweifel auch mal außerhalb der gängigen Videospiel-Logik zu denken. Ein Aspekt, zu dem ich mich auch heute noch viel zu selten ermutigt fühle.
Anmerkung: “Metal Gear” und “Metal Gear 2” wurden der Einfachheit halber und aufgrund der abweichenden Namensgebung nicht als die ersten Teile der Reihe mitgezählt. Wenn also von der Metal Gear Solid-Reihe die Rede ist, dann sind damit die Teile 1-5 sowie die diverse Spin-Off-Titel gemeint. Und bei allem Respekt: Wer hat Snake schon auf dem MSX2 kennen gelernt? (No offense, Hideo.)
In der Serie Blast from the Past berichten Superlevel-Autorinnen und -Autoren sowie geladene Gäste über prägende Spiele und Spielerlebnisse aus der Kindheit und Jugend.
Philip Fassing beteuert stets, eigentlich gar keine Zeit für Videospiele zu haben. Dass sie ihm trotzdem keine Ruhe lassen, kann man unter anderem im Intro Magazin nachlesen, für das er als Redakteur neben den digitalen Aspekten auch die Games-Rubrik betreut.