Review: Continue?9876543210

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“And Eden went to nothingness …”

In der jüdischen Mythologie ist ein Golem eine Gestalt aus Lehm, die durch Magie zum Leben erweckt werden kann. Der Golem folgt einfachen Befehlen, er fegt oder holt Wasser vom Brunnen, aber er hat keinen eigenen Willen – zumindest so lange, bis er allein gelassen wird. Dann kann es passieren, dass er durch die Straßen rast und in blinder Wut alles zerschlägt, was sich ihm in den Weg stellt, wie es in einer Sage über den berühmten Prager Golem heißt. Vielleicht sind Videospielfiguren so etwas wie die Golems unserer Zeit. Entwickler erschaffen sie, sie folgen Befehlen oder spielen gescriptete Ereignisse nach. Wenn sie sterben, werden sie aus dem Random-Access Memory unserer Rechenmaschinen gelöscht. Was sie in der kurzen Zeit zwischen ihrem Ableben auf dem Bildschirm und ihrer digitalen Vernichtung machen, beschreibt Entwickler Jason Oda in Continue?9876543210. Der digitale Golem zerschlägt nicht etwa voller Hass sein Umfeld – er begibt sich auf Sinnsuche.

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Die gescheiterte Spielfigur erwacht nach ihrem Ableben auf einem digitalen Schrottplatz. Hier liegen all die Dinge, die ein Konsument eines Videospiels achtlos aus dem RAM fegt: Zerstörbare Objekte, Gegner, Figuren, die in der Geschichte nicht mehr vorkommen. An einem Lagerfeuer warten andere Figuren darauf, gelöscht zu werden. Die Atmosphäre gleicht der einer computersynthetischen Todeszelle. Damit will sich der Protagonist in Continue?9876543210 aber nicht abfinden. Er hatte im Spiel eine Geliebte, die er wiederfinden will und auch sonst gibt es noch so viel zu entdecken. Die Reise beginnt. Continue?9876543210 besteht aus elf verschiedenen, surrealen Abschnitten, von denen pro Partie im besten Fall sechs durchquert werden können. Dazu müssen jedoch erst Ausgänge geöffnet werden.

Als ich damit begonnen habe, Continue?9876543210 zu spielen, habe ich mir viele dieser Mechaniken in ein Notizbuch geschrieben, um sie nicht permanent in der integrierten Hilfe nachlesen zu müssen. Nach rund einer Stunde bin ich jedoch dazu übergegangen, sie zu ignorieren. Der Moment, in dem ich mich in die Gameplay-Feinheiten des Spiels vertieft habe, war gleichzeitig der Zeitpunkt, zu dem der philosophische Überbau in den Hintergrund trat. Wer das jedoch zulässt, macht aus Continue?9876543210 ein beliebiges Action-Adventure mit Minecraft-Grafik. Das hat das Spiel nicht verdient – und der digitale Golem auch nicht.

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Stattdessen empfand ich es als ratsam, mich einfach treiben zu lassen. Viele Mechaniken werden im richtigen Moment andeutungsweise erklärt, so dass es durchaus möglich ist, einen großen Teil des Spiels zu genießen, ohne wirklich alles zu verstehen. Für diese Herangehensweise wurde ich als Spieler durchaus belohnt: Nicht mit einer epischen Endsequenz oder einer hohen Punktzahl. Dafür bekam ich herzerwärmende Szenen zu sehen, konnte gefühlvollen Zwiegesprächen und nachdenklichen Monologen folgen. Einen Moment lang saß die Spielfigur an einem Lagerfeuer und dachte über ihr erstes Haustier nach. Wenig später wurde einer meiner Zufluchtsorte, die ich mühsam durch zahlreiche Gebete aufgebaut hatte, vom Blitz getroffen. Trotzdem hatte ich nach dem Ableben das Gefühl, meinem digitalen Golem ein paar schöne, letzte Momente verschafft zu haben.

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