Divinity: Original Sin – Dr. Kawashimas Geduldsjogging
Geduldige Menschen kommen leichter durchs Leben. Sie regen sich nicht auf, wenn sich der Bus verspätet, sie im Aufzug steckenbleiben oder sie beim Einwohnermeldeamt lange warten müssen, bis ihre Nummer aufgerufen wird. Stattdessen nutzen sie diese Zeit für erbauliche Gedanken. Nicht umsonst gilt Geduld als eine Tugend, denn sie führt zu einem genussvollen Leben: Nur wer sich die Zeit nimmt, bei einem Sieben-Gänge-Dinner geduldig abzuwarten, bis die nächste homöopathische Nahrungsdosis den Tisch erreicht, weiß ein solches Menü überhaupt zu schätzen. Divinity: Original Sin ist in vielerlei Hinsicht das Sieben-Gänge-Menü unter den Computerspielen. Es ist langatmig, verlangt höchste Aufmerksamkeit, bietet Spielern dafür aber auch ein reiches Genusserlebnis.
Die Entwickler von Larian Studios präsentieren Divinity: Original Sin als klassisches Rollenspiel im Stil eines Baldur’s Gate oder Neverwinter Nights. Gespielt wird in einer zoombaren Draufsicht, gesteuert werden jeweils mehrere Partymitglieder. Zu Beginn erstelle ich mir davon zunächst zwei, im weiteren Spielverlauf lassen sich weitere Charaktere rekrutieren und eine Gruppe besteht aus höchstens vier Figuren gleichzeitig. Charakterklassen gibt es dabei nur insofern, als dass die Entwickler bestimmte Archetypen als Vorschläge ins Spiel integriert haben – generell lassen sich sämtliche Werte und Fähigkeiten aber frei anpassen. Das sorgt zwar für große Flexibilität, wer jedoch noch nicht oft mit Rollenspielen zu tun hatte, fühlt sich schon von der Charaktererstellung erschlagen.
An Rollenspielneulinge richtet sich Divinity: Original Sin ohnehin nicht. Die vielen Eigenschaften und Fertigkeiten aufeinander abzustimmen ist eine Kunst, die viel Feintuning erfordert. Gerade zu Beginn des Spiels komme ich im Halbstundentakt in Situationen, in denen ich mir wünsche, die ein oder andere Fähigkeit doch schon gelernt zu haben. Allerdings: Für jedes Rätsel gibt es verschiedene Lösungswege. Zu Beginn des Spiels soll ich etwa einen Mord aufklären. Um Hinweise auf den Verdächtigen zu finden, kann ich nun wahlweise die Hinterzimmertür einer Verdächtigen aufbrechen, durch Zeugenbefragung andere potenzielle Mörder ausschließen oder aber mittels spezieller Fähigkeit den trauernden Hund des Mordopfers auf dem Friedhof zu seiner Meinung befragen.
Während die meisten Figuren in Divinity: Original Sin relativ farblos bleiben, erstrahlt die Spielwelt selbst in den buntesten Farben. Das im Kern recht generische Fantasy-Szenario nimmt sich selbst nicht besonders ernst, hält sich mit schmalzigem Pathos à la Dragon Age zurück und belohnt den Erkundungsdrang des Spielers. So gut wie jeder Gegenstand im Spiel lässt sich aufnehmen, bewegen, benutzen, an eine andere Stelle schieben oder irgendwie zur Explosion bringen. Wer sich in einem verlassenen Keller die Mühe macht, sämtliche Räucherschinken umzudrehen, findet dabei unter Umständen einen geheimen Schalter und erhält Zugang zu einem neuen Raum.
Während sich die Figuren im normalen Spielverlauf in Echtzeit über die Karte bewegen lassen, laufen Kämpfe rundenbasiert ab. Beim Kontakt mit dem Gegner gewinnt Divinity: Original Sin noch einmal zusätzlich an Spieltiefe. Es gilt nicht nur, gelernte Fähigkeiten sinnvoll einzusetzen, sondern auch die Umwelt geschickt zu nutzen und beides miteinander zu kombinieren. Ein paar Gegner stehen in einer Pfütze? Ein Elektroschock wird sie lähmen. Der Boden brennt? Ein Regenzauber sorgt für aufsteigenden Dampf und versperrt dem Gegner das Sichtfeld. In allen Schwierigkeitsgraden gilt dabei: Niemals die Schnellspeichertaste vergessen! Dungeons sind gespickt von Fallen und gerade zu Beginn ist es einfach, in Gegenden zu stolpern, in denen kaum besiegbare Gegner lauern. Auch im Kampf bleibt Geduld oberste Tugend.
Untypisch für ein so komplexes Rollenspiel ist die Tatsache, dass Divinity: Original Sin auch zu zweit spielbar ist. Jeder Spieler übernimmt eine Figur. In Dialogen ist es dabei möglich, unterschiedliche Meinungen zu vertreten – kommt es zu einem Streit, wird selbiger in Schere-Stein-Papier-Manier ausgetragen. Die selbe Mechanik kommt auch in Einzelspielermodus zum Tragen. Wer also gerne zwei grundverschiedene Charaktere spielen möchte, kann sein Bedürfnis ohne Probleme ausleben.
Divinity: Original Sin wurde über Kickstarter finanziert. Ursprünglich sollten 400.000 Dollar zusammenkommen, am Ende wurde es fast eine Million. Das Ergebnis wirkt bis auf ein paar kleine Bugs und Übersetzungsfehler in der deutschen Fassung recht poliert. Kleinigkeiten wie ein unübersichtliches Inventar und getrennte Goldvorräte für jede Spielfigur wirken ein wenig sperrig, stören aber nur am Rande. Einzig Geschichte und Charakterzeichnung hätten ein wenig detailreicher ausfallen können: Elfen, Orks, Untote, Magier und Hexer eben – Überraschungen gibts kaum. Ihr Versprechen, ein klassisches Rollenspiel von epischem Ausmaß zu schaffen, haben die Entwickler allerdings trotzdem eingehalten. Nur für zwischendurch ist Divinity: Original Sin wahrhaft nichts. Wie ein Sieben-Gänge-Menü eben.