Freiheit als Albtraum: Always Sometimes Monsters
Entscheidungen sind ein wichtiger Teil des menschlichen Lebens. Täglich treffen wir tausende davon, kleine und größere, die meisten im Vorbeigehen. Aufstehen oder noch zehn Minuten weiterdösen? Kaffee oder Tee? Entscheidungen von existenzieller Natur, über Leben und Tod, sind zumindest in unseren Gefilden zum Glück die Ausnahme. Doch selbst in einer privilegierten Biografie gibt es Wendepunkte, an denen wir Entscheidungen treffen müssen, die nicht so trivial sind und die von einer Sekunde auf die andere alles ändern können. Die Fähigkeit, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen und ihre Konsequenzen zu ertragen, macht uns erst zu Menschen. Sie gibt unserem Leben und der Gesellschaft die Form, weil wir bewusst handeln, statt uns vom Zufall treiben zu lassen. Diese gestaltende Wirkung von Entscheidungen lässt sich auf ein interaktives und zugleich narratives Medium wie das Computerspiel perfekt übertragen. Das macht sich Always Sometimes Monsters von Vagabond Dog zunutze. Andere Spiele wie The Walking Dead und The Wolf Among Us, The Novelist oder Papers, Please arbeiten zwar ebenfalls mit dem Element der moralischen Zwickmühle. Always Sometimes Monsters will das Thema aber noch radikaler angehen.
Das RPG Maker-Spiel erzählt eine sehr düstere Geschichte, die sich aus den Entscheidungen im Spiel entwickelt und deshalb je nach Spieler einen unterschiedlichen Verlauf nimmt. Es beginnt mit der klugen Idee, die Spieler ihren Spielcharakter so frei wie möglich wählen zu lassen – aber nicht in einem Menü, sondern eingebettet in die Vorgeschichte: Auf einer Party suche ich mir als Gastgeber unter den Partygästen die Figur aus, über die ich im Anschluss die Kontrolle übernehmen möchte. Diese Partygesellschaft ist bunt gemischt. Wer sich ein bisschen umsieht, stellt fest, dass vielfältige Kombinationen aus Geschlecht, Ethnie und sexueller Präferenz möglich sind. Ich habe mich für eine weiße, heterosexuelle Frau entschieden und begegne im Lauf des Spiels immer wieder Dialogen, die etwa mit einer männlichen Figur anders verlaufen wären. Der Aufwand, den Vagabond Dog investiert hat, um Spielerinnen und Spielern Identifikation mit der Geschichte zu ermöglichen, ist vorbildlich und eine der großen Stärken von Always Sometimes Monsters.
Bis auf die Wahl des Spielcharakters ist die Ausgangslage bei Always Sometimes Monsters – nach einer kurzen und zunächst kryptischen Einstiegssequenz – aber immer die gleiche, und zwar beschissene: Ich bin eine verarmte Schriftstellerin. Meine Vergangenheit ist geprägt von einer schmerzhaften Trennung, von der ich mich nie erholt habe, und einem geplatzten Vertrag mit einem Verleger, dem ich mein Manuskript nicht rechtzeitig liefern konnte. Nun lebe ich allein in einer winzigen Wohnung, zu der mir der Vermieter wegen Mietschulden auch noch den Schlüssel wegnimmt. Ich muss bis zum nächsten Tag 500 Dollar auftreiben, um zu verhindern, dass er mich endgültig vor die Tür setzt. Zu allem Übel finde ich im Briefkasten die Einladung zur Hochzeit meines Ex-Freunds. Sie soll in 30 Tagen in einer weit entfernten Stadt stattfinden. Irgendwie ist mir klar, dass ich unbedingt daran teilnehmen muss, um meine große Liebe zurückzugewinnen. So unwahrscheinlich das im Rahmen einer Hochzeit scheinen mag.
Ich muss also Geld auftreiben, um meine Miete zu bezahlen und um möglichst bald meine Reise im Auftrag der Liebe antreten zu können. Außerdem muss ich ab und zu essen oder trinken, damit mein Ausdauerwert nicht auf Null sinkt. Dieser Wert ist das einzige wirkliche Rollenspielelement. Always Sometimes Monsters erzählt seine Geschichte, ähnlich wie To The Moon, zwar im Rollenspielgewand, auf typische Spielelemente wird aber verzichtet, um der Erzählung Raum zu geben. Always Sometimes Monsters folgt im Wesentlichen einem einzigen Prinzip: Es konfrontiert mich ständig mit verschiedenen Optionen und zwingt mich zu Entscheidungen. Immer hat meine Wahl einen Preis, eine Konsequenz. Manchmal sofort, oft erst viel später. Und nicht selten sind diese Konsequenzen drastisch. Manchmal ist der Preis ein Menschenleben. Die Freiheit, zu wählen, wird zum Albtraum.
Es beginnt vermeintlich harmlos mit der Frage, wie ich zu Geld komme. Bei der Arbeitsvermittlung kann ich Aushilfsjobs annehmen, die mal mehr, mal weniger lukrativ sind: Auf der Hanfplantage lässt sich mehr Geld machen als im Community Garden, in der Schlachtfabrik mehr als bei der Tofuproduktion. Auf der Straße warten Alternativen zur regulären Arbeit: Die Risikozuschläge eines Drogenkuriers etwa sind nicht zu verachten. Manchmal spielt mir der Zufall auch ein bisschen Geld zu, das nicht meines ist – behalten oder zurückgeben? Kann ich mir in meiner Not ein Gewissen überhaupt leisten oder bin ich mir nicht doch selbst am nächsten? Always Sometimes Monsters macht diese Entscheidungen schwerer, indem es die „ehrliche“ Arbeit so ehrlich wie nur möglich darstellt: Als ermüdende, repetitive und zähe Minispiele, die sich nicht immer abbrechen lassen – so wie auch in der Realität ein Achtstundentag im Schlachthof nicht nach vier Stunden vorbei ist. So furchtbar und freudlos diese Minispiele sind, so wichtig sind sie für das Funktionieren des Spielprinzips: Wenn ich mich entscheide, den ehrlichen, aber langwierigen Weg zu gehen, muss nicht nur meine Spielfigur leiden, sondern ich selbst. Entscheidungen haben Konsequenzen, auch im virtuellen Raum des Spiels. Zudem gelingt Always Sometimes Monsters aus meiner Sicht so eine natürlich vereinfachte, aber dennoch sehr direkte Erfahrbarkeit prekärer Lebensverhältnisse, wie sie Christian Huberts in einem lesenswerten WASD-Beitrag einfordert.
Natürlich ist nicht alles an Always Sometimes Monsters eine spielerische Qual, auch wenn neben den Minispielen vor allem die ständigen Laufwege in RPG Maker-Geschwindigkeit einige Geduld fordern. Während meines 30 Tage dauernden Martyriums reise ich von Ort zu Ort, lerne Menschen kennen, höre mir ihre Geschichten an. Überall warten optionale Missionen, überall lauern aber auch Risiken. Das große Ziel, die Hochzeit meines Ex-Freunds, verliere ich dabei trotzdem nie aus den Augen. Always Sometimes Monsters ist erzählerisch ambitioniert, die Dialoge sind selten langatmig, Handlungsverlauf und Rückblenden sorgen für Spannung. Zwischendurch beweist Always Sometimes Monsters sogar Humor. Angesichts des düsteren Szenarios und des schweren Themas wirkt der fast verstörend, dennoch sind die permanent selbstreferenzierenden Spieleentwickler im Café und die Indie-Games-Sammelfiguren, die überall versteckt sind, gelungene Einfälle. Außerdem gibt es überall optionale Minispielchen zu entdecken, die sich zwar grauenvoll spielen, aber sehenswert sind. Über Coldline Toronto konnte ich lachen, ebenso darüber, was mir Always Sometimes Monsters sagte, nachdem ich das erste Mal einen Fisch an der Leine hatte. Da konnte ich sogar einen Moment lang vergessen, dass ich diesen Fisch nur angeln musste, weil ich mal wieder kurz vor dem Verhungern war. Und fühlte mich sofort ertappt, denn auch das beherrscht Always Sometimes Monsters: Kleine Fluchten aus dem harten virtuellen Alltag, Eskapismus durch Entertainment.
Always Sometimes Monsters ist eine lohnende, bisweilen quälende Erfahrung. Kritisch bleibt die Frage nach richtig und falsch, die eine so zentrale Rolle einnimmt. Natürlich lässt sich auch im wahren Leben nicht einfach sagen, was richtig und falsch ist. Zumal es nie ein gültiges, objektives „Richtig“ oder „Falsch“ geben kann. Der menschliche Geist ist kein binäres System – und er ist nie frei von eigenen Wert- und Moralvorstellungen, nie ganz losgelöst von seiner Sozialisierung. Umso mehr bleiben nach dem Durchspielen meine Zweifel an der moralischen Grundlage der ein oder anderen Wertung. So habe ich mich beispielsweise dagegen entschieden, mit Gewalt Druck auf einen Arzt auszuüben, der sich weigerte, eine unversicherte Freundin zu behandeln, die nach einer Überdosis in Lebensgefahr schwebte. Das mag herzlos klingen, aber ist es selbst in einer solchen Situation wirklich moralisch falsch, Gewalt abzulehnen? Noch schwerer tue ich mich mit offensichtlichen Wertungen von Orten wie Kirche (gut?) und Stripclub (schlecht?). In der Realität sind weder Kirche noch Stripclub meine bevorzugten Aufenthaltsorte. Aber ich kann kein Wertesystem teilen, in dem mich der Kirchenbesuch zum guten, der Stripclubbesuch zum schlechten Menschen macht. Immer wieder stören mich im Spielverlauf Kleinigkeiten dieser Art. Zudem eskalieren wiederholt Situationen unerwartet, das Prinzip Entscheidung –> Konsequenz wird manchmal arg strapaziert und das geht letztlich auf Kosten einer glaubwürdigen Handlung.
Always Sometimes Monsters endet je nach eingeschlagener Richtung unterschiedlich. Mein Spielende tat weh und löste bei mir emotionale Reaktionen aus, wie ich sie bei Computerspielen nicht so oft erlebe. Ich war wütend und traurig und enttäuscht, nicht zuletzt von mir selbst, ein bisschen aber auch von der Auflösung der Geschichte. Mein Spielende schien mir zu sagen: „Du hast immer eine Wahl. Aber du kannst nicht gewinnen. Du wirst immer mal wieder ein Monster sein.“ So richtig kann ich mich mit dieser Aussage und mit der zugrundeliegenden Misanthropie nicht anfreunden. Dennoch: Der elfeinhalbstündige Höllentrip war ein Ausflug in die Abgründe der eigenen Moral, den ich nicht bereut habe. Ob ich beim zweiten Mal alles anders, alles besser machen würde? Keine Ahnung, und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht wissen. Im echten Leben habe ich schließlich auch keinen zweiten Versuch.