Alphalevel: Avant-Garde
“Kommen wir nun zu einer besonders gewagten Darstellung: Die Auflösung des Künstlers in seine elementaren Bestandteile, die Reduktion der Kunst auf simple Mathematik. Beachten sie die stringente Linienführung! Form 2, Perspektive 1, Komposition 1, Farbe 1, Ausdruck 5. Welch scharfsinnige Beobachtung, welch expressive Kraft!”
Ich wähle einen schlichten Ansatz für mein erstes Werk auf französischem Boden, ein Stilleben in Tusche: Der grüne Barsch. Es handelt von Form und Verfall und dem Dasein als solches. Bouguereau verspottet mich für meine stümperhafte Federführung, drückt mir 50 Franc in die Hand und empfiehlt mir einen Zeichenkurs. Willkommen in der Avant-Garde.
In einem Café treffe ich Courbet. Wir kommen ins Gespräch über den anstehenden Pariser Salon und welches Mitglied der Künstlerszene den Preis der Akademie in diesem Jahr wohl erhalten wird. Courbet wirft einen Blick auf den Grünen Barsch und rät mir zu einen anderen Ansatz. Aktmalerei sei das große Ding! Ich lehne dankend ab. Ich bin Künstler, meine Mission ist es, Schönheit und Wahrheit eine Gestalt zu geben. Schlüpfrige Gemälde für die Hinterzimmer der feinen Gesellschaft sind unter meinem Niveau und der Menschliche Körper in seiner schnöden Nacktheit wiedert mich an.
Mein zweites Werk heißt Paris im Winter. Es folgen Frühling, Herbst und Sommer. Zugegeben, es sind nicht meine besten Bilder, aber sie helfen mir, mich künstlerisch zu entwickeln und meinen Stil zu finden. Die folgenden Monate halte ich mich mit Straßenszenen über Wasser. Ich zeichne Menschen an der Seine, in den Cafés und verkaufe die sie an Sammler und befreundete Künstler. Doch die nächtlichen Sauftouren mit Monet und Courbet beginnen ihren Tribut zu fordern, das Geld wird knapp, die Schulden stapeln sich und niemand erkennt die wahre Qualität meines Schaffens. Der blaue Barsch, meine Einreichung zum letzten Salon, wurde abgelehnt. Oh, welch Stümper!
Vielleicht doch ein Aktgemälde? Sie verkaufen sich angeblich gut und das Geld könnte ich dringend gebrauchen – also wage ich den Versuch. Die Nackte Wahrheit ist mehr als nacktes Fleisch, sie ist eine erschreckende Anklage an die Gesellschaft, an die Realität hinter der Fassade und Ausdruck einer gepeinigten Seele. Ich verkaufe sie für 173 Franc.
Nackte Tatsache, Nackte Weisheit und Nackte Nacktheit machen mich schlagartig schuldenfrei. Ich male Akte im Akkordtempo; vergesse, ihnen Namen zu geben. Für Akt #9–17 orientiere ich mich am aktuellen Geschmack und erweitere mein Atelier um Leinwand und Ölfarben. Immer seltener besuche ich das Café und mit Claude habe ich seit Monaten nicht gesprochen. Akt #46 ist schließlich der Durchbruch, er gewinnt die silberne Medallie im Salon und macht mich reich. 8000 Franc –acht tausend!
Während in den kommenden Jahren Impressionismus und Post-Impressionismus ihren Siegeszug feiern, halte ich dem Realismus die Treue. Ich male, was sich verkauft und werde dafür belohnt. Akte #51–64 erhalten weitere Auszeichnungen und erzielen Rekordsummen.
Es ist der August des Jahres 1887, als mich die Reue überkommt. Was ist nur aus meinen hehren Prinzipien geworden? Wurde ich zu dem, was ich dereinst verachtete? Monatelang versinke ich im Absinth, ziehe durch die Cafés und Kneipen während mein Atelier leer steht. Der Pariser Salon schickt mir Einladungen, die ich nicht öffne.
Mit letzter Kraft veröffentliche ich im Februar 1889 Das Prinzip . Es ist weit mehr als das gigantische, abstrakte Wandgemälde eines grünen Fisches. Mein verbleibendes Vermögen floss in seine Erschaffung und verkündet mein Manifest: Das Prinzip ist eine neue Kunstrichtung – eine, die all jenes verkörpert, was ich so lange verloren hatte: Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Schönheit und Ausdruck. Eine Radikale Abkehr vom Körper, von den Zwängen der Pariser Gesellschaft und ihrer materiellen Güter.
Einen Monat später bin ich pleite.
Trotz eines frühen Alphastatus lohnt sich der Blick auf Avant-Garde allein für das wunderschöne Hauptmenü, das ein impressionistisches Gemälde von Gustave Caillebotte um Musik, Regen und Fokusspielerei erweitert. Entwickelt wird es von Lucas Molina, den man auf Reddit mit Fragen zur Entwicklung und geplanten Features löchern darf.
5 Kommentare zu “Alphalevel: Avant-Garde”
Ein Trackback zu “Alphalevel: Avant-Garde”
Kommentare sind geschlossen.
1. Der beste Artikel, den ich zu diesem Spiel bisher lesen durfte.
2. Ich finde die Idee großartig, war allerdings relativ schnell gelangweilt. Es ist merklich noch nicht fertig, deswegen darf man sich keinen stundenlangen “Spielspaß” erhoffen, aber ich bin gespannt, was die finale Version zu bieten hat.
Ein herrliches Spiel. Die Athmosphäre hat mich sofort gefangen genohmen und ich jubeljauchtzte als es mir endlich gelang eine Medalie im Salon de Paris gewann.
Ich warte sehnsüchtig auf neue Updates um der Welt mein Manifest zuverkünden.
Der Artikel ist großartig und macht so Bock auf das Spiel, aber ich werds nicht zum Zeichner, sonst bin ich nur enttäuscht (vom Spiel).
Ich sollte mehr Geduld für sowas haben. Hab das vor ein paar Tagen gesehen, kurz ausprobiert und dann unbegründet leider ganz schnell wieder gelassen.
AHHH FORMIDABLE!