Ich bin schwul - und das ist auch gut so.
Wie erst kürzlich die hitzige Debatte um die Lehrplanerweiterung in Baden-Württemberg zeigte, ist der Zugang zu Sex noch immer vielfach ein biologistisch geprägter – und dementsprechend einer, der dem heteronormativen Ideal untersteht. Was davon abweicht, wird als homoerotische Propaganda missinterpretiert. Oder gleich als Versuch, unschuldige Kinder unter dem regenbogenfarbenen Deckmantel von Toleranz und Offenheit umzupolen. Coming Out On Top dürfte der spielbare Albtraum all jener sein, die eine Schulreform zugunsten sexueller Vielfalt aus eben diesen Gründen zu verhindern versuchen.
Denn anstatt ein authentisches, rohes Abbild des von Vorurteilen und bisweilen offener Ablehnung geprägten Alltags homosexueller Männer zu zeichnen, präsentiert das Spiel einen Protagonisten, der sich nach anfänglichen Startschwierigkeiten in einem Umfeld wiederfindet, das sein Coming Out nicht nur akzeptiert, sondern zelebriert. Das ihn mit offenen Armen empfängt, mal sanft, mal ruppiger durch das anschließende emotionale Auf und Ab leitet. Und ihn vor allem als Menschen mit individuellen Eigenheiten, Ängsten und Wünschen zeichnet, die mit seiner Sexualität nicht zwingend verwoben sind.
Mark Matthews blickt seinem letzten Semester an der Orlin University und damit der Erfüllung eines alten Vorsatzes entgegen, der ihn bereits seit Jahren zu verfolgen scheint: Seinem Coming-out. Als er endlich schweißgebadet die entscheidenden Worte über die Lippen bringt, zeigt sich schnell, dass seine lähmende Angst unbegründet war, denn was ihm entgegenschlägt, ist kein Entsetzen, kein Entfremden von zuvor liebgewonnenen Menschen, sondern Respekt, Freude und Ermutigung. Und ein prompt initiierter Verkupplungsversuch. Eben dieser stellt dann auch die Weichen für den weiteren Spielverauf, der geprägt ist von romantischen wie erotischen Begegnungen, die es zunächst herbeizuführen und gegebenenfalls zu intensivieren gilt.
Die Handlungsfreiheit beschränkt sich dabei auf eine Auswahl aus zwei bis fünf vorgegebenen Antwortmöglichkeiten im Rahmen der zahlreichen Dialoge mit Freund_innen, Verwandten und – allen voran – den aktuell fünf zur Verfügung stehenden, potenziellen Dates. Die rudimentäre Spielmechanik allerdings fällt dank der hervorragend konzipierten Texte nie negativ ins Gewicht. Eloquent, humorvoll und zugleich einfühlsam werden die Begegnungen mit den Nebendarstellern geschildert, die nur auf den ersten Blick der Klischee-Enzyklopädie einschlägiger Slash Fiction entnommen zu sein scheinen. Tatsächlich hat jeder von ihnen mehr zu bieten, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint, und gerade die vermeintlich oberflächlichsten Figuren bieten letztlich den meisten Tiefgang – vorausgesetzt, man ist sich ihnen langsam anzunähern bereit.
Coming Out On Top kann mehr oder weniger als eine klassische Dating-Simulation sein, je nach Herangehensweise. Ist man nur auf das hochgradig explizite Bildmaterial aus, das im Falle sexueller Kontakte zwischen den Charakteren eingeblendet wird, lassen sich Pfade einschlagen, die jedoch lediglich in One-Night-Stands münden. Weitaus komplizierter, aber möglicherweise ungleich befriedigender hingegen gerät das Spielgeschehen, wenn eine enge Bindung zu einer anderen Figur aufgebaut werden soll. So müssen ihre Eigenarten berücksichtigt werden, und zunächst offensichtliche Lösungswege entpuppen sich als Einbahnstraßen. Das ist auch deshalb erfreulich, weil ein hastiger Sprint durch das Spiel so deutlich erschwert wird. Wer alles sehen und am Ende nicht als einsamer Investmentbanker oder an der Seite seines manipulativen Goldfisches enden will, wird sich auf das Geschehen einlassen müssen, anstatt gelangweilt auf farbkodierte Dialogoptionen klickend nur auf die narrative und sexuelle Klimax zu warten.
Das aber lohnt sich, nicht zuletzt dank zahlreicher Details, die den jeweiligen Erzählstrang auf mal liebenswerte, mal aberwitzige Weise ergänzen. Ob man wochenends stoisch für die anstehenden Prüfungen lernt oder gemeinsam mit der WG-Genossin einen cholerischen Spitz zum Spaziergang ausführt, hat Auswirkungen auf die Beziehungsgeflechte und Endsequenzen, derer es zahlreiche gibt – so viele, dass es ohne Weiteres möglich ist ist, Coming Out On Top fünf- oder zehnmal von vorn zu beginnen, ohne sich zu langweilen. Die ebenfalls vielseitigen Sexszenen tragen ihr Übriges dazu bei, sind gerade durch ihre Textlastigkeit anregend, weil sie – trotz der gelungen illustrierten Standbilder – Raum für Fantasie lassen und damit auch Spieler_innen einen erotischen Zugang zu dem Geschehen ermöglichen, die sich von den jeweiligen Situationen oder auch dem propagierten Schönheitsideal zunächst nicht angesprochen fühlen.
Dass beim Anblick durchtrainierter Hünen mit variabler Körperbehaarung nicht eines jeden Durchblutungsschwerpunkt in den Genitalbereich rutscht, ist dennoch auch der Entwicklerin des Spiels bewusst, und so wurden für das kommende Jahr bereits weitere Charaktere angekündigt, die unterschiedliche Vorlieben bedienen sollen. Allein, die weibliche Statistinnenriege wird wohl unangetastet und so zum Teil unerfreulich eindimensional bleiben. Wenngleich deutlich wird, dass sich einige der Frauen vornehmlich als wandelnde Stereotype präsentieren, wenn man ihnen die entsprechende Erwartungshaltung entgegenbringt.
Überhaupt spielt Coming Out On Top mit Vorurteilen, lässt unmoralisches Verhalten zwar zu, die damit verbundenen Konsequenzen aber nicht aus, und bietet damit weitaus mehr Tiefe als ein Großteil anderer Genrevertreter. Zudem beginnt das Spiel mit einem Plädoyer für Safe Sex und scheint nicht nur damit mancher Bildungsoffensive weit voraus zu sein. Und vielleicht sind die Befürchtungen, die regelmäßig aus den Clubhäusern verkappter Penisliebhaber ertönen, doch begründet: Ich jedenfalls hatte unfassbar viel Spaß daran, in die Rolle eines schwulen Studenten zu schlüpfen und mich auf Sex-Exzesse mit anderen Männern einzulassen; eine Freude, die über bisher zwanzig Stunden Spielzeit andauert. Die Transformation, sie schreitet unaufhaltsam voran.
“Coming Out On Top” kann bis zum 31.12. durch die Nutzung des Aktionscodes “CQPO002PR” zum vergünstigen Preis von 15,75€ (14,99$) über Obscurasofts Homepage erworben werden. Ab dem kommenden Jahr wird das Spiel dann für umgerechnet 21€ zu haben sein.
11 Kommentare zu “Coming Out On Top: It’s Raining Men, Hallelujah”
Ein Trackback zu “Coming Out On Top: It’s Raining Men, Hallelujah”
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Ich habe es gespielt und bin jetzt auch schwul.
Hier geht es um Sex, oder?
Shit und ich hab kein passendes Zahlungsmittel
Hmja, BMT Micro ist zwar meiner Erfahrung nach ein seriöser Paymentdienst, aber modern ist anders. Abgesehen davon, dass (in diesem Fall) PayPal nicht zu funkionieren scheint. Falls keine Kreditkarte vorliegt, würde immerhin Paysafecard funktionieren. Guthaben dafür bekommt man u.a. an jeder Tanke.
Da komm ich erst morgen vorbei. Hätte es gern gleich geholt, man neigt dazu das wenn man nicht gleich reagiert es in Vergessenheit geriet.
Die Biologie sieht Sex nicht als rein reproduktiven Akt an, sondern erkennt zum Beispiel auch seine prosoziale Wirkung. Wenn Eltern den Aufklärungsunterricht auf einen bestimmten Ausschnitt der wissenschaftlichen Erkenntnisse beschränken wollen, ist das in diesem Fall heteronormativ aber ich sehe nicht, was daran “biologistisch” sein soll. Schließlich geht die Biologie überwiegend von einer starken biologischen Komponente bis hin zur vollen Determinierung von Homosexualität aus.
Das Wort bezieht sich nicht auf die Biologie selbst, sondern auf “Biologismen”, also die unmittelbare Verbindung zwischen menschlichem (auch innergesellschaftlichem) Verhalten und eng gefassten biologischen Gesetzmäßigkeiten, durch die bestimmte Normen erklärt und erhalten werden sollen. Und eben diese zielt in diesem Fall sehr wohl auf eine fortpflanzungsfokussierte Wahrnehmung von Sex ab, die alle Abweichungen von der heterosexuellen Norm ablehnt.
Ich glaube du missverstehst hier vielleicht die Unterscheidung zwischen “biologisch” und “biologistisch”. Es geht dabei nicht um den aktuellen Wissensstand der Biologie selbst, sondern um den Wissenstand von Menschen die in sozialen Diskursen Argumente bringen, die sich auf angebliche biologische oder evolutionäre Rechtfertigungen beziehen. Objektiv betrachtet haben die mit Wissenschaft meistens gar nichts zu tun, aber die Leute verstehen sie subjektiv trotzdem als völlig rational und eindeutig belegbar. Das hat quasi weniger mit Wissenschaft selbst zu tun, als mit dem Bild, das die Gesellschaft von Wissenschaft hat. Aktuelle Hirnforschung bewegt sich ja auch in einer anderen Gegend als das “Männer sind von Natur aus schlauer/rationaler/können besser einparken” Sexismen tun.
Nun, mir ist schon klar, dass eine biologistische Argumentation sich nicht am eigentlichen wissenschaftlichen Erkenntnisstand orientieren muss, sondern oft eher an dem, was dafür gehalten wird (oder in der Vergangenheit als solcher vertreten wurde). Ich schätze, ich wollte sicherheitshalber andeuten, dass die Biologie durchaus eine weitere Perspektive aufweist.
Ich verstehe jetzt, was gemeint war. Die Fehlannahme, Sex dient ausschließlich der Fortpflanzung, mit der man die Beschränkung des Aufklärungsunterrichts begründet, kann man natürlich durchaus als biologistische Argumentation ansehen.
Also schön, gewonnen. Hier kann man aufhören zu lesen, es folgt nur noch Rechtfertigung. ;)
Ich hatte das weiter gedacht im Zusammenhang mit “homoerotische Propaganda” oder “umpolen”, denn die Idee, dass Homosexualität formbar ist, würde ja eher in das Feld der Psychologie oder ggf. als soziale Dynamik in das der Mikrosoziologie fallen. Dagegen erinnere ich mich nicht, dass die Biologie als solche je mal etwas anderes vertreten hätte, als dass sexuelle Präferenz auch (epi)genetisch (teil)determiniert sein könnte. (Wobei das bis heute ungeklärt ist.) Und da die Bedenkenträger in diesem Fall also nicht der Biologie folgen, könnte man sich durchaus streiten, ob Biologismus hier wirklich das grundlegende Problem ist.
Schließlich, das ist aber mehr eine Metadiskussion, gibt es natürlich einen Grund, warum ich nachgehakt habe. Da “Biologismus” auch als Abwehrkonzept der Sozialwissenschaften gegen die Übergriffigkeit der Naturwissenschaften entstanden ist, schließt sich hier irgendwie der Kreis, wenn ich als Naturwissenschaftler im Gebrauch von “biologistisch” schnell mal eine (vermeintliche) Vilifizierung ausmache. Denn obwohl der Hinweis auf die Unterscheidung zwischen “biologisch” und “biologistisch” völlig richtig ist, gibt es ja durchaus die Haltung, dass die Biologie der grundfalsche Zugang zu der Frage ist. Und klar ist das auch eher eine ethische Frage. Aber im Bezug auf die Faktenlage, auf der die ethische Bewertung aufbaut, ist die Biologie natürlich ein wichtiger Bestandteil, auch wenn ihr Beitrag, ähnlich wie bei dem angedeuteten Thema der Geschlechterunterschiede, auf ein bisher ungeklärt hinausläuft.
<3
Sind Kens eigentlich weniger schlimm als Barbies? Naja, es wäre scheinbar zuviel verlangt, wenn “homo”-Spiele weniger eindimensionale klischeecharaktere hätten als hetero-Spiele. Schön wäre es aber schon gewesen, wenn dem Körperkult etwas weniger offensichtlich und platt gehuldigt worden wäre.
Wahrscheinlich muss sich das Genre jetzt erst noch 30 Jahre entwickeln, dann kommt eine Videoreihe über “tropes in homosexual games” und der Autor wird von der homogamer-gemeinde mit Tod und Vergewaltigung bedroht.