Mut zur Lücke: Gone Home belegt die kreative Kraft der fragmentarischen Erzählung,
in der das Ungesagte das Wichtigste ist.
Wir berichteten bereits im August über Gone Home. Nach etlichen Strapazen und über diverse Umwege fand nun auch Christian Schmidt nach Hause und berichtet an dieser Stelle von seiner Heimkehr.
Gone Home kostet 19 Euro und ist nach zwei Stunden vorbei. Auf den Stundenpreis gerechnet ist es eines der teuersten Spiele, die man sich derzeit kaufen kann, teurer als ein Kinobesuch oder eine Staffel Breaking Bad, sehr viel teurer als Grand Theft Auto 5. Es ist ein Luxusprodukt.
Wer Gone Home bereits gespielt hat, der wird es befremdlich oder gar kleingeistig finden, ein Urteil über diesen ungewöhnlichen Indie-Titel ausgerechnet mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu beginnen. Aber Gone Home ist kein Spiel im engeren Sinne, sondern eine interaktive Erzählung ähnlich dem letztjährigen Dear Esther; und insofern gilt die profanste Frage dem Wert seiner Geschichte. Denn was Gone Home schildert, ist letztendlich eine gewöhnliche, recht dünne und in ihrer Alltäglichkeit nur wenig berührende Story vom Coming-of-Age eines Teenager-Mädchens: die erste Liebe, die verständnislosen Eltern, Rebellion und sexuelle Identitätsfindung.
Man kann all das in ähnlicher Tiefe in einer typischen Folge von Gute Zeiten, Schlechte Zeiten bekommen. Und nur weil das erzählerische Niveau in Computerspielen vergleichsweise mäßig ist, heißt das noch lange nicht, dass Gone Homes simple Geschichte herausragend wäre (oder gar „the greatest video game love story ever told“, wie die Internet-Seite der New York Times hyperbelt, dabei haben Spiele solches Strohhalmgreifen nun wirklich nicht mehr nötig). Schaffen wir diesen Punkt also aus dem Weg: Hätte das Indie-Studio The Fullbright Company sich entschieden, die gleiche Handlung als gedruckten Text oder als Video zu veröffentlichen, würden die meisten Menschen laut auflachen bei dem Gedanken, dafür 19 Euro auszugeben. Aber sie haben die Geschichte in eine 3D-Welt eingebettet. Erst da wird Gone Home interessant.
Das Spiel beginnt weit nach Mitternacht des 7. Juni 1995 auf der Türschwelle eines viktorianischen Herrenhauses im US-Bundesstaat Oregon. Es regnet, und es ist niemand zuhause. Das wundert die 21jährige Kaitlin Greenbriar, die da heimkommt, denn sie hatte ihre Rückkehr von einem Jahrestrip durch Europa telefonisch angekündigt. Statt einem herzlichen Willkommen durch ihre Mutter, ihren Vater und die jüngere Schwester – keiner da. Mit dieser mysteriösen Ausgangskonstellation, dem Gewittergrollen und flackernden Licht im knarzig-dunklen Herrenhaus wäre der Grundstein für eine klassische Gruselmär gelegt. Doch das unheilschwangere Ambiente dient Gone Home nur als Stimmungsrahmen für eine Erkundungstour in die Familiengeschichte der Greenbriars, genauer: der jüngsten Tochter Samantha. Hier ist kein Horror zu befürchten, auch nicht implizit, denn selbst die seelischen Abgründe der Greenbriars sind eher Schlaglöcher.
Das Bedeutsame an Gone Home ist nicht das, was es erzählt, sondern die Art und Weise, wie es erzählt – nämlich in Fragmenten, gleichsam als narratives Puzzle. Es steht damit in einer Traditionslinie, die über die Bioshock- und System Shock-Serien zurückgeht bis auf den Activision-Klassiker Portal von 1986. In dem Maße, in dem der Spieler als die ratlose Heimkehrerin Katie erkundend durch das einsame Haus wandert und das Licht in Räumen anknipst, Schubladen aufzieht und auf Tischen verstreute Dokumente sichtet, eröffnet sich ihm peu à peu ein Meer von Informationsfetzen.
Deren gestalterische Bandbreite ist eine der Glanzleistungen von Gone Home, sie reichen vom Tagebuch-Eintrag zur an den Kühlschrank gehefteten Hochzeitseinladung, vom Arztrezept bis zum Zeitungsausriss, von der Kassettenhülle bis zum zerknüllten Manuskript im Papierkorb. Da ist die Nachricht von Samantha an ihre Eltern, trotzig neben ihre Zimmertür geheftet, in der sie ihnen den Gehorsam aufkündigt. Da ist die Broschüre über ein paartherapeutisches Freizeitcamp, das Veranstaltungsdatum mit Filzstift umkringelt. Da ist der Brief des Vorbesitzers des Hauses an seine Schwester, der ungeöffnet zurückkam. In manchen der akribisch entworfenen Dokumente, etwa in Samanthas Lösung einer Sexualkunde-Aufgabe, blitzt erzählerische Brillanz auf, die weit über das Grundniveau der Geschichte hinausgeht; und wenn man später im Keller Katies damaliges Arbeitsblatt zur gleichen Aufgabe entdeckt, glaubt man ein so klares Verständnis vom Charakter der beiden Schwestern erhascht zu haben, als hätte man jahrelang mit ihnen gelebt.
So sind die Schicksale von drei Generationen der Greenbriar-Familie zersplittert über das Haus verstreut, als Text und als Kontext, denn das gesamte Gebäude ist ein Teil – der beste Teil – der Erzählung. Wenn im Schlafzimmer der Eltern die Kommoden aufgezogen und durchwühlt sind, im Wohnzimmer jemand ein Polster-Fort gebaut hat, wenn im Arbeitszimmer von Vater Greenbriar eine Whiskey-Flasche auf dem obersten Regalboden versteckt liegt, dann braucht Gone Home keine weiteren Worte, um im Kopf des Spielers Geschichten zu formen. Die sind umso eindrücklicher, weil sie so vertraut wirken. Jeder neue Raum ist ein Abenteuer, in dem es Schätze zu heben gilt, und diese Schnitzeljagd entwickelt einen Sog, der zugleich fasziniert und beängstigt: Während man Schublade um Schublade aufreißt und sich immer bedenkenloser durch die Privatsphäre seiner Familie wühlt, ringt die Neugierde mit dem Unbehagen darüber, was da zum Vorschein kommen könnte. Gone Home lebt vom Reiz dieser banalen, aber kribbelnden Grenzüberschreitung, von dem kindlichen Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, während man die Handtasche seiner Mutter öffnet. Aber man kann sich nicht stoppen.
Der Brennpunkt von Gone Home liegt im Kopf des Spielers: Die Bruchstückhaftigkeit der Erwählung ist eine mitreißende Herausforderung an die Kreativität. Mit jedem neuen Informationsschnipsel müssen Geschehnisse ein- und umgeordnet werden in einem fortwährenden Sortierprozess, durch den kaleidoskopische Deutungsmuster entstehen und zusammenstürzen. Gone Home belässt es für die meisten Ereignisse bei Andeutungen, und diese Ambivalenz der Fragmente entfesselt die Fantasie. Was geschehen ist, wird zur Nebensache neben dem, was geschehen sein könnte; unweigerlich füllen sich die Lücken in zigtausend individuellen Auslegungen. Die Wirkungsmacht von Gone Home liegt in der Interpretation des Ungesagten. Und je mehr sich die Informationen, die man findet, der Spielgegenwart nähern, desto größer wird das Gefühl der Dringlichkeit, das die Handlung auf ihr einleuchtendes, wenn auch überraschungsloses Finale zutreibt.
Nein, Gone Home ist kein Meisterwerk der interaktiven Erzählung. Unnötig, den Spieler in die sprachlose Rolle der großen Schwester zu stecken, statt die Identität des nächtlichen Besuchers unbestimmt und also deutungsoffen zu lassen. Schade, dass das Geschlecht von „Sam“ nicht länger im Unklaren bleibt, um die erste Interpretation der Spieler als Schubladendenken zu entlarven. Bedauerlich, wie bedeutungslos alle Figuren außerhalb des zentralen Paares bleiben, das weitgehend unbehelligt um sich selbst kreist. Und gewiss wäre das Durchsuchen der Privatsachen ein viel schwerwiegender Vertrauensbruch, wenn man zuvor direkten Kontakt mit den handelnden Personen gehabt hätte.
Aber zum einen entschädigt Gone Home für solche Unterlassungen durch die immersive Kraft seiner Welt, durch die verblüffende Detailverliebtheit der Requisite und den Willen zur Authentizität, wodurch das Spiel zu einer glaubwürdigen Zeitreise ins Milieu der amerikanischen Mittelschicht der 90er-Jahre wird. Zum anderen ist es ein vitaler Vertreter einer Strömung, die das Spektrum des Mediums ausweitet: Am einen Ende Minecraft & Co als Spielmechanik ohne Erzählung, am anderen Ende Gone Home, Dear Esther, To the Moon & Co als Erzählung ohne Spielmechanik.
Gone Home ist ein rätselloses, aber deshalb kein anspruchsloses Spiel. Seine Interaktivität erzeugt Verantwortung; vor allem aber entsteht durch sie die Möglichkeit des Übersehens und des Auslassens. Die Erzählung als Konstrukt sowohl des Entdeckten als auch des Unentdeckten, das ist der faszinierende Kern dieser Darreichungsform. So fordert und feiert Gone Home die Neugierde, die Aufmerksamkeit und die Fantasie, und es erlaubt jedem Spieler, aus den Informationsschnipseln, die er für sich entdeckt hat, seine ureigene Version der Geschichte zu destillieren.
Das ist allemal 19 Euro wert.
Christian Schmidt war stellvertretender Chefredakteur des Spielemagazins GameStar und arbeitet als Analyst beim Hamburger Spielehersteller Bigpoint. Gemeinsam mit Gunnar Lott betreibt er den Retrospiele-Podcast Stay Forever. Der kostet übrigens gar nichts.
15 Kommentare zu “Gone Home”
Ein Trackback zu “Gone Home”
Kommentare sind geschlossen.
Willkommen zu Hause, Christian. <3
Ein schöner Text zu einem schönen Spiel. Gewürdigt mit einem (nicht) schönen Bild:
http://d.pr/i/Fn9J
Hello Mom!
Wann holt ihr Gunnar und macht diese dysfunktionale Familie endlich komplett?!
Für Gunnar müssten wir uns einen Zivi zulegen. Aber die gibt es ja nun leider nicht mehr. :-/
Geht nicht auch ein unbezahlter Praktikant?
Moment mal Fabu, mein Zivildienst liegt gar nicht so lange zurück.
IDG-Takeover mal andersrum :-D
Überlegt ihr euch total coole Zitate und dann nehmt ihr ein Spiel und verbaut die Zitate in den Text oder wie soll ich mir das erklären?
Ach ja: Wie war das mit der Vergewaltigungsszene in Hotline Miami 2?
Ja. Und das nennt man dann Pullern.
Sehr schöner Artikel!
Würde dir in den meisten Punkten zustimmen.
Danke, endlich mal jemand der die Geschichte auch als sehr gewöhnlich erkennt. Hatte auf jeden Fall Spaß mit dem Spiel, aber es wurde doch sehr gehypet.
Schön hier wieder etwas von Christian Schmidt zu lesen. Seine Ansichten liegen in der Regel auf meiner Wellenlänge und man merkt der Qualität der Texte an, das jemand sich damit auseinander gesetzt hat und diese nicht einfach herunter geschrieben wurden. Ein großes Lob noch einmal! Und jetzt hab ich auch direkt wieder Lust auf Gone Home bekommen… :D
Superlevel und Christian Schmidt. Ich bin einfach nur glücklich.
Bitte die (…) im Teasertext noch mit dem Link zum Artikel versehen.
Ich habe dort jetzt schon wiederholt ins Leere geklickt, weil ich so empfänglich für Konventionen bin.
Vielen Dank.
Wer meinen Artikel zur Kritikfähikeit aufmerksam gelesen hat, der wird sicher zwischen den Zeilen herausgehört haben, dass ich mir Kommentare zu Reviews ausschließlich in Battlereimform wünsche. Ich gehe deshalb nun mit gutem Beispiel voran:
So, so, Herr Christian Schmidt
macht der jetzt auch noch mit
Gone Home gut zu finden ist ja nicht gerad’ der Hit
Ein Spiel ohne Mechanik und nur 2 Stunden lang
da fang ich mit 19€ lieber was deutlich bessres an
kauf mir erstmal nen richtig fetten Egoshooter
für meinen hochgetakteten Alienware High End Computer
ey Christian Schmidt, ich ziel auf dich, ich hoff’ du bist kein Bluter!
Klar, alles natürlich nur rein virtuell
doch hab ich dich im Visier, dann schieß ich ganz schön schnell!
Und schießt du doch zurück, merkt man dein fortgeschrittnes Alter.
Deine Schreibe triggert mich nicht, wie ein kaputter Schalter.
Komm Schmidti, lass das Schreiben einfach sein
Manu lädt dich dafür auch zu einem Podcast ein
Thema heute: Christian Schmidt liebt David Hain!
Aber noch mal zu Gone Home
für 19 Euro soll’s sich lohn’?
Das sind ja 38 Mark -- 1995 am Telefon.
Aber gut, für dich spiel ich’s gern noch mal von vorn.
Doch für heiße Lesbenaction geht für mich nichts über Youporn!
Also lieber Christian, nimm das hier bitte nicht persönlich
aber dein erster Platz bei Krawall stimmt mich ganz schön unversöhnlich
die Jury fand doch nur, dass du die schönren Locken hast
darum hab ich die absolute Mehrheit letztlich auch so knapp verpasst
Du Spast!
Das hier ist Superlevelbattleaction
ich spreng’ dich von der Seite als sei das hier Red Faction
also pack deine Sachen und stay forever wo der Pfeffer wächst
das Raumschiff Gamestar bringt dich heim
schick mir n Foto, wie du dir die Wunden leckst!
MC Diddi out!
Ansonsten natürlich ein schöner Artikel.