Ludum Dare #23 – Reportage Teil 2/7
Ein herzliches Ahoi, Leserschaft von Superlevel!
Als ich heute wieder 200 andere Spiele getestet habe, ist mir aufgefallen, dass viele ein gemeinsames Thema teilen: Die Bindung an andere Menschen und deren Auswirkung auf das eigene Leben. Das geschieht auf verschiedenen Ebenen. So wird die Liebe zu jemandem als Motiv direkt in die Narration eingeflochten, die Wahl des Survival-Genres durch die Bindung an eine höhere Macht legitimiert oder den SpielerInnen wird ein Spielzeug in die Hand gedrückt und damit alleine gelassen. Auch zwei meiner bisherigen Top-Favoriten behandeln auf ihre eigene Weise dieses Thema. Dies lässt sich schon aus dem diesjährigen Motto Tiny World erklären: Eine begrenzte Fläche lässt große Nähe zu, und wenn diese Nähe nicht existiert, so fehlt sie umso mehr. Lasst euch also im zweiten Teil der Reportage von der Vielfalt überraschen.
Adventures über Beziehungslosigkeit
(Tiny Journey)
Besonders beeindruckt haben mich diesmal zwei Adventures, die beide ein vollkommen unterschiedliches Gameplay bieten und auch weder grafisch noch atmosphärisch miteinander vergleichbar sind. Bei beiden Spielen sind die Protagonisten aber ohne jegliche soziale Bindung zu irgendeiner Person. Das skurril-tragikomische Point’n’Click-Adventure Tiny Journey erzählt die Geschichte eines einsamen, namenlosen Kinderverschnitts von Jack Skellington. Dessen Eltern lassen ihn im Jahr nur einmal zu seinem Geburtstag aus dem Zimmer raus, in dem er schon seit langer Zeit an den Blaupausen für eine Rakete zeichnet. Doch nachdem er aus einem Traum der Freiheit erwacht, entschließt er sich, diesen in die Realität umsetzen. Entgegen des Verbots seiner Eltern tritt er aus dem Zimmer heraus und bemerkt, dass sie schon lange fort sein müssen. So helfen die SpielerInnen dem armen Kerl dabei, die Bauelemente für seine gewünschte Rakete zusammenzusuchen. Dabei sehen wir nie auch nur eine Skelettseele, nur den schon lange toten Hund. Das Schicksal der Spielfigur bleibt tragisch. Das Spiel verlässt man zwar mit gemischten Gefühlen, dafür aber mit der Sicherheit, dass die ProgrammiererInnen eine fantastische Arbeit geleistet haben.
(Ancestor’s Sword)
Eine andere Glanzleistung ist das Plattformer-Adventure Ancestor’s Sword. Hier wird man in eine Umgebung der Generalglückseligkeit und des absoluten Liebenswürdigkeitenaustauschs hineinkatapultiert. Es gibt fröhlich herumspielende Kinder, ein Liebespaar, friedfertige Menschen mit der Hoffnung, dass nie wieder ein Unheil passieren wird und natürlich Kätzchen. Dazwischen befindet sich aber auch der gelangweilte Enkel des gefeierten Helden, der diesen Zustand überhaupt erst ermöglicht hat. Die Spielfigur will sich von den NPCs begibt sich daher auf die Suche nach dem Schwert seines Großvaters, damit er selbst zum Abenteurer werden kann. Dabei wird sich der zentralen Spielidee von VVVVVV bedient, in der man entgegen aller Schwerkraft mit einem einzigen Tastendruck sich von Fläche zu Fläche bewegen kann, solange sie nahe genug dran ist. Sollte das nicht der Fall sein, so kann man, sobald man eine Gießkanne gefunden hat, die Samen von in der Spielwelt verteilten Rankenpflanzen bewässern und sich so neue Zugänge schaffen. Erschwert werden diese Raumrätsel zusätzlich durch fiese Dornen auf den Plattformen, die einen zum vorherigen Standpunkt zurückversetzen. Das Spiel kann, nach Aussage des Entwicklers JaJ, auf zwei Arten beendet werden. Ich habe nur das scheinbar offensichtliche Ende erspielen können; dort wird jedoch deutlich, was ich mit Beziehungslosigkeit meine. Schon mal einem gelangweilten, scheinbar passiv-aggressiven Jugendlichen ein mächtiges Schwert in die Hand gedrückt? Nein? Dann wird es Zeit. Eine endgültigere Isolation gibt es nicht. Mir ist kurzzeitig das Lachen im Hals stecken geblieben, bis ich wieder anfangen musste zu lachen. Ein herrliches Gefühl.
Die Melancholie der Pixelliebe
Während die Charaktere in (meinen beiden bisherigen Favoriten auf einen Spitzenplatz) Tiny Journey und Ancestor’s Sword ein freies Leben führen wollen – das wandelnde Skelett möchte fort von seinem Elternhaus und den daran geknüpften Erinnerungen, der dezent psychopathische Heldenenkel will sich dem ermüdenden Glückszustand mit allen Mitteln entledigen –, gibt es auch wundervolle Spiele, die sich mit dem genauen Gegenteil auseinandersetzen: Der Liebe und der Sehnsucht nach jemandem. Was gibt es Schöneres, als sich einer Person völlig mit Leib und Seele hinzugeben, frei von jedem äußeren Zwang?
(Pretentious Game)
Der Plattformer Pretentious Game bindet dieses Motiv sehr clever in das Spielkonzept ein. Wie ein Liebesgedicht geschrieben sind die mal mehr, mal weniger verschlüsselten Anweisungen, die zur Lösung des jeweiligen Rätsels beitragen. Unterlegt ist alles mit einem sanften Klavierstück, sodass man sich der romantischen Atmosphäre kaum entziehen kann. Man mag zwar nur einen sich nach dem Gegenstück verzerrenden Zusammenschluss von Pixeln spielen, aber es stimmt einfach alles in diesem kurzweiligen, emotionalen Vergnügen. Am Ende lehrt uns Pretentious Game jedoch noch eine Lektion über das Format Spiel sowie das Leben selbst, die ich nicht vorausnehmen möchte.
Tiny Vessels dagegen ist genau genommen gar kein Spiel, sondern vielmehr eine erkundende, hochgradig melancholische Geschichte. Zu Beginn steuert man einen runden Block um die kleine kreisrunde Welt herum, wobei man in einen Baum ein Herz schnitzt, eine Notiz an das Haus der Geliebten hinterlässt, ihr einen Zaun baut sowie ihre Lieblingsblume als Geschenk pflückt. Dabei versucht man ihr hinterherzukommen, doch sie bewegt sich simultan zum Block fort und geht so auf Distanz. Schnell wird klar, dass dies die Vergangenheit war, da man nun den pinken Block auf dem mittlerweile halbwegs zerstörten Planeten handelt. Er, der Geliebte, ist tot. Der Baum mit dem Herzen ist zum Grab mutiert, sein Haus ramponiert, die Blume ist fort, nur der Zaun steht noch. Mich hat es kurz geschauert, dass ich es nicht schon vorher geahnt habe. Irgendwas lief zwar falsch, das habe ich gemerkt, aber ich konnte nicht genau sagen was.
(Tiny Vessels)
Sowohl Pretentious Game als auch Tiny Vessels schleudern den SpielerInnen auf ihre jeweils eigene Art eine Aussage entgegen: Carpe diem. Tatsächlich braucht es keine besondere Grafik, um eine emotionale Geschichte effektiv zu erzählen. Es bedarf einer Ästhetik, aber keiner Grafik. Diese Atmosphäre des Minimalismus, die ich gestern bereits im ersten Teil der Reportage erläutert habe, wird hier dazu benutzt, dass sich eine möglichst große Identifikationsfläche bietet. Nicht etwa die ansprechende, gar menschliche Gestalt oder die ausgeklügelte Persönlichkeitsstruktur samt Vorgeschichte der Charaktere führen dazu, dass ein Spiel einen Menschen berührt; es ist die Atmosphäre. Die Liebe ist ein transkulturell auftretendes Phänomen, der Großteil der Menschheit wird irgendwann einmal davon betroffen sein; sei es die Liebe zur Familie, zu den besten FreundInnen oder zum bzw. zur PartnerIn. Es gibt immer eine Person, die nicht im Leben fehlen darf. Diese Universalität der Liebe führt dazu, dass diese sonst so abstrakten Pixelhaufen von den SpielerInnen mit Leben gefüllt werden können. Die Atmosphäre des Minimalismus ist eine Strategie, eine Einladung zum Mitfühlen.
Was das Survival-Genre an die Übermacht bindet
Wem dies aber zu gefühlsduselig sein sollte, für den bietet das Ludum Dare #23 auch anderes. So gibt es reine Survival-Spiele wie beispielsweise The Underground Court. Hier übernimmt man die Rolle des letzten verbliebenen Insekts neben dessen Königin. Diese muss ernährt werden, damit das Fortbestehen der eigenen Kolonie gesichert werden kann. Das namenlose Arbeitskerbtier ist dadurch gezwungen zur Außenwelt vorzudringen, da mit jeder verstrichenen Sekunde die Königin sich dem Tod nähert. So werden Früchte von Bäumen gepflückt, Mülltonnen durchwühlt oder auch der Kuchen aus dem Nachbarsgarten geschnappt. Bei einem zu hohen Gewicht bewegt sich die Spielfigur allerdings wesentlich langsamer, sodass man Gefahr läuft die Königin vorzeitig sterben zu lassen oder von den blitzschnellen herumstreunenden Katzen zerrissen zu werden. Dieses Spielkonzept wäre ohne den Rahmen der Bindung an die Hierarchie – verstanden als eine Personenrangfolge, die auch den Wert des einzelnen festlegt – als Spiel undenkbar, da es einfach nur lächerlich wäre. Das simple Umhertragen von Gegenständen von Ort A bis Ort B bietet keinerlei Spielmotivation, wenn es nicht in einen Kontext gebracht wird.
Meta: Do it yourself!
Interessant werden Spiele aber auch, wenn sie die Beziehung zwischen ProgrammiererIn und SpielerIn selbst thematisieren. Leveleditoren sind dabei immer eine wunderbare Angelegenheit, da sie das im Normalfall streng festgelegte Verhältnis aufbrechen. Mit einem Leveleditor werden SpielerInnen ein Stück weit selbst zu SpielemacherInnen. Besonders ansprechend fand ich in diesem Zusammenhang die Grundidee des Puzzle-Shooters Nineties Holywood Hacker: Auf einem 10×10 Feld muss man einen Schaltkreis herstellen, indem man Anfang und Ende mit zufällig generierten Puzzlestücken, die die Form pseudo-technischer Symbole besitzen, verknüpft. Sobald dies gelungen ist, ballert man in eben jenem selbstproduzierten Level-Wulst kleine aggressive Roboter ab. Die Umsetzung ist ein wenig dröge und umständlich, aber die Idee lässt schon schmunzeln.
Besser gefällt mir da der Dungeoneditor Wunderworld mit seiner Minecraft-Ästhetik. Mit seiner einfachen Bedienung ist er äußerst benutzerfreundlich. So kann man sich aussuchen, wie viele Felder der Dungeon lang, breit und tief sein soll, ob es abklopfbare Schmutz- oder undurchdringliche Metallwände gibt, wo die SpielerInnen starten, ob und wie viele Gegner – schon wieder Katzen, diesmal als feindliche Kriegermutationen – sich herumtummeln sollen, und noch viel mehr! Hier wird den SpielerInnen eine große Freiheit gelassen; absolut klasse angesichts der Tatsache, dass der Programmierer ratking dieses Prachtstück im Alleingang innerhalb von 48 Stunden produziert hat. Die Bindung zwischen SpielerIn und ProgrammiererIn wird so durchlässig gemacht. Ich habe selbst auch einen kleinen Dungeon produziert. Natürlich mit ganz viel Meta-Herz.
(Wunderworld)
Und sonst so?
Ansonsten gibt es morgen wieder den nächsten Beitrag und heute noch vier weitere Kurzempfehlungen. Viel Spaß!
Microbial: Absolut grandios-organisches Puzzle-Design, natürlich in einem Zellkörper! Möglicherweise noch ein bisschen zu verbuggt, aber es lohnt sich!
Nina Nueve: Kurzweiliges, unterhaltsames 9×9 Felder-Puzzle-Spiel mit einem Hauch Zelda-Ästhetik.
River Runner: Ein dauerhafter „Just one more try…“-Momentgenerator. Frustrierend gute Suchtgefahr.
Prince of Leaves: Einfach nur für den einmaligen Song. Spielen, hören, freuen!
3 Kommentare zu “Ludum Dare #23 – Reportage Teil 2/7”
7 Trackbacks zu “Ludum Dare #23 – Reportage Teil 2/7”
Kommentare sind geschlossen.
Ogottogott — wo fang’ ich denn da an? ._.
Beschimpf mich nicht wieder als irre!!!111einseinsELF ._.
Die beiden Adventures klingen wirklich sehr spannend, wobei ich allein bei der Beschreibung von Tiny Journey mir schon Antidepressiva schmeissen möchte.
PS: IRRE