Nycto-, Aqua-, und Speluncaphobiker sollten das hier vielleicht auslassen.
Mit das Tollste, was Videospiele vollbringen können, ist, dem Spieler etwas zu bieten, das er so noch nie zuvor erfuhr. Sie ermöglichen den Einblick, wie wenig Zentimeter Rückradhaftung den Unterschied zwischen erfolgreicher Landung und multiplen Frakturen beim Motocross bedeuten können; wie es sich anfühlt, in einer Plastikkugel gefangen Bananen einzusammeln; oder zeigen, wie es ist, mit einem komatösen Frettchen und einer Maschinistin, deren Augen bald schlüpfen werden, über die sieben Unterweltmeere zu schippern. Wait. What?
In Sunless Sea, dem Spinoff zum bestgeschriebendsten Spiel, das du nie gespielt hast, streifst du die Mütze eines frei genderbaren Dampfschiffkapitäns über, um im Jahre 1892 die Underzee, das Meer unter dem Meer, zu durchkreuzen. Heimathafen ist der Schauplatz von Failbetter Games eben erwähntem erstem Spiel, Fallen London. Als frischgebackener Erbe von Schiff, Crew und Frettchen liegt es an dir, deine Träume, so poetisch, materialistisch oder blutrünstig sie auch sein mögen, zu verwirklichen.
Fallen London und die Underzee bilden ein faszinierendes Setting von spätviktorianischem Gothic Horror, gepaart mit einer bedrückenden Atmosphäre, die so gar nicht zur Hurra-Helden-Attitüde der meisten Videospiele passt. Anstatt Orks für Loot zu erdolchen, schmuggelst du Seelen in die Hölle (oder verschenkst deine eigene für eine Tasse Tee), verdingst dich als Charonersatz, dinierst mit seltsamen Schwestern und lernst schnell, dass Geheimnisse mehr wert sind als Gold.
Wie einst in Sid Meier’s Pirates! steuerst du das Schiff direkt per Cursortasten übers Wasser, in Häfen und Städten schaltet das Spiel auf ein an Darklands angelehntes Menü um, und um nicht nur uralte Spiele zu namedroppen, wird das Ganze mit einem ordentlichen Schuss FTL-Schwierigkeit mitsamt (optionalem) Ironmanmodus angedickt.
Das Herzstück von Sunless Sea sind aber die sogenannten Storylets, kleine Geschichten, die von den eigenen Handlungen beeinflusst werden, sich aufeinander auswirken und parallel laufen. Manche von ihnen sind absurd, manche Abbildung tristen Alltags, aber allen ist gemein, dass sie mit einer Sorgfalt und einem Vokabular geschrieben sind, deren Qualität meine Fähigkeiten der Schriftsprache nicht mal gereichen, um sie angemessen zu beschreiben. Aber missverstehe dies nicht als reines Sprachgewichse: Schon in den ersten Stunden auf der Underzee tat ich einiges, was ich so noch nie in einem Spiel tat. Und wenn es nur Weinen war.
Die Entwickler wissen, dass eine gutgeschriebene Textwüste immer noch eine Textwüste ist, und präsentieren die Geschehnisse daher in mundgerechten Happen, die in den meisten Fällen eine oder mehrere Spielerentscheidungen verlangen. Sunless Sea verzichtet aber auf biowaresche Binärmoralvorstellungen; als was für ein Captain du in die Annalen der Unterzeeschiffahrt eingehen wirst, ist allein deine Entscheidung. Sunless Sea verurteilt dich nicht.
Auf deinen Irrfahrten über das schwärzeste Meer wirst du allerlei feindseligem Gestrüpp begegnen und manchmal die Kanonen sprechen lassen müssen. Der Kampf Schiff gegen Schiff/Seeungeheuer/lebender Eisberg findet auf einem etwas tristen, weil statischen Kampfbildschirm statt. Beide Parteien haben diverse Fähigkeiten, die allesamt einige Sekunden Zeit benötigen, bevor sie einsetzbar sind. Im Prinzip gilt es, den Gegner erst einmal gut genug zu sichten, um ihn tatsächlich beschießen zu können, und gleichzeitig per Ausweichmanöver zu verhindern, dass er dasselbe mit dem eigenen Schiff tut. Der Kampf ist per Leertaste ständig pausierbar, bis zu vier Aktionen können gebuffert werden, schnelle Reaktionen braucht hier niemand. Der oft identische Ablauf macht diesen Part auf Dauer etwas dröge, aber die Kämpfe sind recht schnell vorbei und nicht gar so häufig.
Abgesehen von Piraten und diversen Untieren, sind die größten Gefahren, die dir begegnen werden, der Hunger, der Brennstoffmangel und die Dunkelheit. Gehen die Vorräte auf hoher See zur Neige, bleibt dir nichts anderes übrig, als deine Crew zu essen (die das jetzt nicht so super findet); ist alles Verfeuerbare verfeuert, ist euer Schiff nicht mehr als eine große Boje. Die Dunkelheit – beachte das Sunless in Sunless Sea – ist jedoch dein größter Feind. So du abseits von Leuchtbojen oder Landmassen kreuzest, erhöht die Dunkelheit stetig die Furcht der Crew. Dies führt irgendwann unweigerlich zur Meuterei und damit, so diese weder niedergefochten noch wegdiskutiert werden kann, zur Entmachtung und Entleibung des Captains. Das bist du. Das ist schlecht.
Stirbt man auf eine der vielen Arten, ist das Spiel jedoch nicht vorbei: Ein Erbe wird berufen, der, bewaffnet mit der Weltkarte, einem Offizier oder einem Skill seines glücklosen Vorgängers, erneut von Fallen London aus ins Meer sticht. Ich frage mich aber, ob sich dieses an Rogue Legacy erinnernde System mit einem so storyintensiven Spielprinzip verträgt, da (zumindest zum jetzigen Stadium des Spiels) alle Erlebnisse und Entscheidungen des Vorgängers verfallen und erneut erlebt werden. Nach meiner Erfahrung mit anderen entscheidungsbasierten Spielen, wie The Walking Dead oder Fahrenheit, ist die Magie, die Bedeutung der ersten Wahl schlichtweg nicht reproduzierbar – alles danach verkommt zu Was-wäre-wenns. Es wäre schade, würden die tollen Storylets von Sunless Sea in späteren Durchläufen zu stumpfen Durchklickorgien mutieren.
Das Traurige ist: Mit großer Wahrscheinlichkeit wirst du, lieber Leser, nicht so unerklärlich begeistert auf die Texte des Spiels reagieren, und vielleicht schon deswegen nicht, weil ich hier so schlimm davon geschwärmt hab und so eine überzogene Erwartungshaltung weckte. Dann gibt es immer noch atmosphärisches Maperforschen, RPG-Elemente und kreative Locations, aber ob das reicht? So oder so schlage ich vor, auf die Fertigstellung des Spiels, die für Ende September geplant ist, zu warten: Große Gebiete der Welt sind noch texturenfrei, man begegnet Platzhaltermonstern und dutzende Orte, Entscheidungen und Spielziele sind noch nicht implementiert.
Ich wage es nicht, mir zum jetzigen Zeitpunkt ein finales Urteil über Sunless Sea abzuringen; zu viel Potential wird bisher nur angedeutet, zu viel Content ist noch unerreichbar, zu oft schickte ich meine Mannschaft in den sicheren Tod, weil ich vergaß, dass man ab und zu was essen muss, und kann demnach nicht mal fundierte Aussagen über den gesamten bisher enthaltenden Inhalt treffen (den Anfang kenne ich inzwischen allerdings recht gut, ähem). Aber was ich weiß, ist, dass ich selbst definitiv weiterspielen werde, und sei es nur aus dem Lost-Effekt. Weil ich wissen will, was aus mir und der Teufelin wird; was es mit dem verstümmelten Magier auf sich hat, der seinen Arm an eine Schlange hinter den Spiegeln verlor; und welche Geheimnisse Station III unter Verschluss hält.
Sunless Sea ist komplett in Englisch gehalten, aufgrund der Textmenge und mit einem Blick auf den Vorgänger würde ich mir keine große Hoffnung auf eine Lokalisierung machen. Das Spiel ist momentan im Steam Early Access für grob 20 Euro zu haben, eine Übersicht über den Fortschritt der Entwickler findet ihr hier.
Ein Kommentar zu “Sunless Sea: 20000 Meilen unter der Erde”
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Sunless Sea ist wirklich etwas ganz Besonderes, allerdings ist die aktuelle Version noch sehr Baustelle und sollte deshalb -- vor allem, weil das Spiel sehr von seinen Storys und seiner Atmosphäre, vom Sense of Wonder lebt -- vielleicht doch lieber erst im fertigen Zustand empfohlen werden.
Dass es etwa aktuell keine Map-Randomisierung gibt, macht das Spiel nach ein paar Stunden des Staunens recht ermüdend, einige Mechaniken -- vor allem der momentan sehr unbarmherzige Terror-Anstieg -- sind unbalanced, und die Kampf-Mechanik ist noch recht langweilig.
Das Allerschlimmste aber ist IMHO die Tatsache, dass sich die SChriftgröße bei halbwegs modernen Auflösungen nicht vergrößern lässt, ein technisches Problem, das die Entwickler laut Blogpost schon beharken. Es ist einfach Irrsinn, bei einem Spiel, das quasi zu 90 % aus dem Reiz des geschriebenen Wortes besteht, seitenweise Text aus briefmarkengroßen Kästchen im rechten unteren Eck ablesen zu müssen. Mir hat das leider die Freude an der Beta vertan, da ich nach kurzer Zeit wegen Kopfschmerzen keine Lust mehr hatte, mir die verdammt gut geschriebenen Texte durchzulesen -- so treten die mechanischen Beschränkungen allerdings noch mehr zutage.
Und als Spieler von Fallen London und Black Crown muss ich auch noch anmerken, dass die Story-Engine Story Nexus, die auch bei SS zum Einsatz kommt, nicht unbedingt das Gelbe vom Ei ist.
Klingt jetzt alles sehr negativ, ich stimme aber natürlich Hendrick im Kern vollkommen zu: Alleine wegen der wahnsinnig originellen Welt, der genialen Story(s) und der immer wieder Staunen machenden Details hat SS auch in meinem Herzen einen Ehrenplatz. Ich werde allerdings wohl erst dann wieder abtauchen, wenn ich die tolle Story nicht mehr im augenkrebsfördernden Ameisenschriftgrößen lesen muss.
PS “bestgeschriebendsten”, autsch