Die Götter sind nicht beeindruckt.
Da gab es einmal einen Jungen in einem mittlerweile fast schon antiken viralen Video, der vor Freude völlig austickte, weil unter dem weihnachtlichen Geschenkpapier ein N64-Karton zum Vorschein kam. Ganz ähnlich habe auch ich mich gefühlt, als ich Jotun zum ersten Mal startete. Nach den ganzen Trailern und Screenshots, mit diesem unendlich liebevollen und großflächigen Zeichenstil und dem bis ins Mark gehenden Wahnsinnssoundtrack, war ich zum Bersten mit kindlicher Vorfreude erfüllt. Und nun stellt sich bitte jeder das Gesicht des erwähnten Jungen vor, wenn er feststellen muss, dass der schöne Karton leider mit Backsteinen gefüllt ist. Das ist Jotun.
Als hätte Gott nach drei Tagen Schöpfungsgeschichte beschlossen, dass es jetzt doch wohl genug sei, wirkt Jotuns Stil und Ansatz nach außen hin zwar ungebrochen frisch und beeindruckend, aber gleichzeitig auch ziemlich leer und einsam. Mit dem christlichen Gott hat man hier aber eh nichts am Hut. Vielmehr möchte die unehrenhaft gefallene Wikingerin Vicky Thora ihre nordischen Götter beeindrucken, um doch noch ins ersehnte Walhall eintreten zu dürfen. In kurzen Sprachfetzen, die stilsicher in Isländisch gehalten sind, aber genauso gut einem rückwärts vorgelesenen Ikea-Katalog entsprungen sein könnten – mir kann man ja alles erzählen – lernt man ein bisschen was über Thoras Hintergrund. Leider zu wenig, um die an sich total großartig gestaltete Protagonistin mit Leben zu füllen. Da sie bereits tot ist, erachtete man das vielleicht auch gar nicht für notwendig.
Noch bedauerlicher ist es jedoch, dass auch die weiten Landstriche, die nahezu alle Elemente aus Captain Planet abdecken, ebenfalls nicht viel zu erzählen haben. Auf der Suche nach den Runen, die Thora benötigt, um die Tore zu den insgesamt fünf Jötnar (das ist laut Hendrik der korrekte Plural von Jotun) zu öffnen, gibt es leider nur wenig zu entdecken. Man trifft kaum auf Gegner, die man mit der mitgeführten Riesenaxt maßregeln könnte und außer ein paar recht schnell gelösten Umgebungsrätseln, wie dem Ausweichen von Giftsporen oder dem Nachzeichnen von Sternenbildern, ist hier nichts weiter zu tun. Stand mein Mund eingangs noch vor Begeisterung über die großartige Atmosphäre offen, ist diese Kieferstellung im fortgeschrittenen Spielverlauf doch eher als Gähnen zu werten.
Die erwähnten Jötnar sind übrigens ziemlich mächtige Bossgegner, die einen am Ende jedes Abschnitts erwarten. Sie sind meist ganz schön riesig und hart zu knacken, wenn man nicht gerade eine Affinität für Mustererkennung besitzt. Einfacher geht es, wenn man die unterwegs entdeckten göttlichen Kräfte einsetzt, die leider dem sehr begrenzten Kampfrepertoire Thoras keine neuen Aspekte abringen können. Leichter Axthieb, schwerer Axthieb, Ausweichrolle – diese drei Aktionen werden durch sie lediglich verstärkt, so dass die seltenen Kämpfe kaum taktische Tiefe besitzen. Wem diese trotzdem noch zu schwer sind, kann dem Entwickler alternativ auch den eigenen Spielstand per Email zuschicken und bekommt diesen mit unbegrenzten Götterkräften zurück. Service ist eben mehr als nur der Aufschlag beim Tennis!
Tja, doof. Nach wie vor halte ich Jotun für einen der audiovisuell imposantesten Titel der letzten Jahre, atmosphärisch sind insbesondere die ersten Stunden erste Sahne, doch spielmechanisch ist es unerwartet konventionell und substanzlos. So schafft es das Spiel leider letztlich nicht ganz, die Götter zu beeindrucken.