Journal: Völlig verzettelt
Tagebücher sind eine gute Möglichkeit, sich einfach einmal alles von der Seele zu schreiben, ohne die Reaktion eines anderen fürchten zu müssen. Als Inbegriff des Privaten sind sie selbst vor den Schnüffelnasen der NSA sicher und liest man seine Ergüsse mit einigen Jahren Abstand, ist man wahrscheinlich auch ganz froh darüber, sie mit niemandem geteilt zu haben. Auch Entwickler Locked Door Puzzle wäre vielleicht besser beraten gewesen, das abenteuerlose Adventure Journal lieber für sich zu behalten. Mit ganz dickem Herzchenschloss versiegelt.
Was direkt ins Auge sticht, ist der einzigartige Artstyle von Journal. Offenbar sehr darum bemüht, eine kindliche Filzstiftoptik herzustellen, zeugt bereits die grafische Präsentation von einer gewissen Überambition, deren Resultate mich selten überzeugen können. Dabei beginnt alles eigentlich ganz spannend. Als namenloses Teenie-Mädchen mit aufgesetzt wirkender Baskenmütze wache ich auf und muss zu meinem Entsetzen feststellen, dass die letzten Einträge aus meinem Tagebuch verschwunden sind. Nicht rausgerissen, einfach weg. Ob sie etwas darüber wisse, frage ich anschließend meine Mutter, die einsam vor dem Kamin steht, seltsam gesichtslos, wie jede Figur in diesem Spiel. Allgemein lassen mich die unglaublich rudimentären Animationen zunächst daran zweifeln, dass in der Schwarzwälder Kirschtorte vom Nachmittag nicht doch etwas zu viel Alkohol war.
Nach einem wenig ergiebigen Dialog fasst die Sprecherin meiner Figur das Zwiegespräch noch einmal für mich zusammen, wie sie es zukünftig nach jeder Unterredung machen wird. Mit dem Ausdruck und dem Gefühl einer Drittplatzierten beim Vorlesewettbewerb der 6. Klasse vorgetragen, erfahre ich so regelmäßig, was ich kurze Zeit zuvor bereits erfahren habe. Praktisch! Dazu klimpern im Hintergrund abwechselnd zwei bis drei austauschbare, sehr kurze Musikstücke, die sicher ganz schön sind, aber eben auch beliebig und dermaßen repetitiv, dass erst eine halbe Stunde Free Jazz sie mir wieder aus dem Gehörgang spülte.
Doch auch eine viel zu wünschen übriglassende Präsentation kann ja theoretisch von einer guten Story gerettet werden. Und da es außer dem Durchklicken von Dialogen keine weiteren Gameplayelemente in Journal gibt, steht diese auch im Mittelpunkt. Das anfangs erwähnte Mysterium der verschwundenen Tagebucheinträge gerät jedoch flugs zur Nebensache, da rasch von allen Seiten neue Probleme an mich herangetragen werden. Trennung der Eltern, Betrug beim Mathetest, Zerbrechen von Freundschaften, unglückliches Verliebtsein, Diebstahl einer Schneekugel, eine tote Oma, ein zerbrochenes Fenster und, warum auch immer, die eigene Unfähigkeit, beim Postamt ein Paket abzuholen. All das in nicht einmal zwei Stunden. Man kann sich also vorstellen, wie wenig Zeit dazwischen für die Entwicklung der Figuren bleibt, die allesamt nicht mehr als farblose Abziehbilder üblicher Rollenklischees sind. Da wäre die nerdige Einserschülerin, die von den coolen Kids gemobbt wird, aber am Ende doch den Mädchenschwarm abbekommt. Oder die Schulschönheit, die nichts in der Birne hat und der Obdachlose, der schnodderig seine Lebensentscheidungen bereut. Sie alle sind zu viel und erzählen doch so wenig.
Das entstehende Gesamtbild wirkt wie ein loser Flickenteppich ohne konsistente narrative Entwicklung. Getroffene Dialogentscheidungen haben nahezu keinen Einfluss auf den weiteren Gesprächsverlauf, geschweige denn auf die Geschichte an sich. Die Oberflächlichkeit der Figuren und Probleme verhindert jegliche emotionale Reaktion meinerseits, und die Beliebigkeit der meisten Handlungsstränge weckt einzig mein Interesse für die parallel laufende Curling-Übertragung. Bei dieser fällt mir bizarrerweise schließlich die perfekte Analogie für das Grundproblem von Journal auf: Immer, wenn ein Story(bau)stein in den Mittelpunkt des Spiels gestellt wird, rutscht auch schon der nächste heran und kickt ihn wieder aus dem Blickfeld. Außerdem gibt es im Spiel auch einen Typen, der stets einen Besen zur Hand hat, womit sämtliche Restzweifel an der Eignung meines Gleichnisses wohl beseitigt sein sollten.
Auch wenn ich dem Spiel am Ende nicht viel abgewinnen kann, haben mir seine Fehler in nahezu allen relevanten Bereichen noch einmal vor Augen geführt, wie gelungen Gone Home tatsächlich ist. Denn als in Journal das große Geheimnis um die fehlenden Tagebucheinträge schließlich gelüftet wird, habe ich innerlich längst damit abgeschlossen. Weil mir die Figuren im Gegensatz zu Gone Home völlig egal sind. Weil ihre Gesichtslosigkeit nicht nur ein äußerliches Merkmal ist. Weil Emotionen nicht dadurch entstehen, dass mir jemand vorliest, wie ich mich fühle. Also schließe ich dieses Tagebuch mit dem Gefühl, in den wirren Gedanken eines Teenagers gewühlt zu haben, der noch nicht herausgefunden hat, wer er ist und wie er sein will. Bedauerlich, dass das Spiel darauf auch keine Antwort weiß.