Kentucky Fried Zero: Act 2

Dies ist der zweite Teil unserer Analysereihe zu Kentucky Route Zero.

Deutsche Versionen: Teil 1, Teil 2, Teil 3
English versions: part 1, part 2, part 3


Ich hoffe, ihr hattet ein angeregtes Pausengespräch und habt euch an den völlig überteuerten Schnittchen gelabt. Doch die Klingel hat soeben geläutet, die Theaterpause ist beendet und es beginnt der zweite Akt von Kentucky Route Zero. Dieser erschien vor kurzem und setzt die surreale Geschichte um einen Lieferanten und seine Begleiter fort.

Lektuereschluessel Kentucky Route Zero Act 2

Wie im Artikel zum ersten Akt, mit dem man sich bei Bedarf nochmal auf den aktuellen Stand bringen kann, soll versucht werden einige der Inspirationen und Hintergründe der neuen Episode zu beleuchten – und genau wie im letzten Artikel, geht auch diesem eine Spoilerwarnung voraus.

Occupy Churches

Akt 2 steigt unvermittelt ins Geschehen. Lula Chamberlain, Künstlerin der fiktiven Ausstellung „Limits & Demonstrations“ aus der gleichnamigen Ergänzungsepisode, arbeitet inzwischen im „Bureau of Reclaimed Spaces“, einer Behörde, die sich mit der Umnutzung leer stehender bzw. gescheiterter Gewerbeflächen beschäftigt. Damit wird eines der Kernthemen der zweiten Episode eingeführt, die landschaftliche Veränderung durch ökonomische Umstände, sowie die Frage nach den Spuren der Vorbesitzer. Ein Thema, das bereits im Bürogebäude selbst durchexerziert wird, denn die Behörde hat ihr Lager in einer ehemaligen Kirche bezogen, komplett mit Orgel und einem Occupy-Orgelbesetzter.
Der Ort ist zwei realen, modernen Kirchen nachempfunden. Der schottischen St. Bride’s Church Kilbride, von welcher die Backstein-Ornamente stammen, sowie Gottfried Böhms Mariendom in Neviges bei Düsseldorf.

Boehm Mariendom

Böhms Bauwerk, eine Architekturikone des 20. Jahrhunderts, entstand Ende der sechziger im Zuge der Öffnung und Neuorientierung der katholischen Kirche nach dem zweiten vatikanischen Konzil und spielt stark mit den Erwartungen von innen und außen. So werden zum Beispiel die Straßenlaternen von draußen bis in den Innenraum weitergeführt. Im Spiel wird die Frage nach „innen“ und „außen“ immer wieder aufgegriffen – dazu später mehr.

Die St. Bride’s Church Kilbride gilt dagegen als eines der schönsten Werke des schottischen Brutalismus – was zugegebenermaßen nicht sonderlich schwer ist. Entworfen wurde Sie vom Architekturbüro „Gillespie, Kidd and Coia“, die in der Nachkriegszeit den größten Teil der schottischen Neubau-Kirchen verwirklichten.
Die Namen der an diesen Bauten beteiligten Architekten lassen sich im Spiel relativ einfach an der Benennung von Lulas Arbeitskollegen „Böhm“, „Metzstein“ und „MacMillian“ ablesen.

(T)raumdichtung

In der Einleitung der Episode erhält Lula ein Ablehnungsschreiben des „Gaston Trust for Imaginary Architecture“, ein Verweis auf den französischen Philosophen Gaston Bachelard und sein Werk „Poetik des Raumes (La Poétique de l’Espace 1958)“.
Bachelard beschäftigte sich sowohl mit Wissenschaft als auch mit künstlerischer Phantasie, zwei für Ihn zwar unterschiedliche, jedoch gleichwertige Bereiche der menschlichen Entfaltung. Die „Poetik des Raumes“ untersucht die Verbindungen zwischen der Kreativität des Dichters und der ihn umgebenden Architektur und hatte großen Einfluss auf Künstler wie Ed Rusha, dem häuserzerschneidenden Gordon Matta-Clark oder James Turrells Lichtraumkunst. Aber auch Kentucky Route Zero wurde von Bachelard inspiriert.

Beowulf Borrit

So sind die Videoinstallationen im „Bureau of Reclaimed Spaces“ mit Ihren Bildern von Muscheln, Nestern und Höhlen eine Auflistung von Bachelards Beispielen intimer Räumlichkeit. Die Muschel selbst, die später in Form der sich im Büromaterial eingenisteten Einsiedlerkrebse wieder auftaucht, ist bei Bachelard der Anbeginn der Wohnung, der Abtrennung des Innen vom Außen. Diese Eingangsfrage unserer Protagonisten nimmt im Buch ein ganzes Kapitel ein. Zwar sieht Bachelard das Haus als Ort der Träume, die das kreative Schaffen des Künstlers speisen und nur in Abgeschlossenheit von der Außenwelt stattfinden können, gleichzeitig argumentiert er aber auch für eine Auflösung der strikten Gegensätze von Innen und Außen. Ein Gedanke, den Kentucky Route Zero immer wieder aufgreift, wenn Traum und Realität, Kunst und Videospiel miteinander verschmelzen.

„SHANNON: Is this place inside or outside?“

Depressive Bekannte

Auch das „Museum of Dwellings”, welches wir später besuchen, spielt mit Innen- und Außenperspektiven. Es präsentiert uns Häuser innerhalb eines Gebäudes, die mit weiteren Anspielungen auf die „Poetik des Raumes” verbunden sind.
Im Museum treffen wir aber auch auf eine uns bereits aus dem ersten Akt bekannte Referenzquelle: Die Dokumentation der „Farm Security Agency“ (FSA), jenem Teil von Roosevelts New Deal, der als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise das Land reformieren sollte. Die Namen der Museumsbewohner verweisen hier auf das Buch „Preisen will ich die großen Männer“ von James Agee, an dem der FSA-Fotograf Walter Evans maßgeblich beteiligt war.

Dymaxion House

„Preisen will ich die großen Männer“ war ursprünglich als Zeitungsreportage angelegt, wurde aber nach Ablehnung durch verschiedene Zeitungsredaktionen als Buch veröffentlicht und gilt heute als Meilenstein der Überwindung traditioneller Journalismusformen. Es thematisiert das Schicksal dreier Farmerfamilien in Alabama und verbindet detaillierte faktische Beschreibungen mit ausufernden poetischen Teilen. Die hierfür entstandenen Fotos sind bis heute die bekanntesten in Walker Evans Werk. James Agee wurde später Filmkritiker und Drehbuchautor.

Neben anderen Behausungen findet sich im Museum ein sogenanntes „Dymaxion Haus”. Dieses 1928 vom visionären amerikanischen Architekten Richard Buckminster Fuller als Haus der Zukunft konzipierte Gebäude erinnert am ehesten an ein Getreidesilo. Es war aber nicht nur Vorreiter der Idee des energieeffizienten Bauens – wobei wir heute einiges zur Weißblechverschalung zu sagen hätten – sondern auch Fullers Antwort auf die Wohnprobleme der Depressionszeit. Sie waren als maschinenfertige Allzweckhäuser gedacht, die man schnell und kostengünstig vor Ort zusammenbauen konnte. Tatsächlich hergestellt wurden sie allerdings erst zwanzig Jahre später und lediglich in zwei Exemplaren, die heute im Ford Museum in Michigan bewundert werden können.

Buckminister Fullers Dymaxion-Ideen, ein Kunstwort das für „dynamic maximum tension“ steht, sind auch an anderen Stellen dieser Episode zu finden. So stolpert man auf der Route Zero über einen Autofriedhof voller „Dymaxion-Autos”, einem tropfenförmigen, dreirädrigen Bus der, dem Haus ähnlich, auf Energieeffizienz und niedrigen Verbrauch hin konzipiert war. In Kentucky Route Zero, welches ähnlich den Filmen David Lynchs in einer Mischzeit aus den Fünfzigern und Gegenwart existiert, scheinen Fullers Ideen für den Verlust einer greifbaren Zukunftsvision zu stehen. Der Lösung der damaligen Probleme sind wir auch heute kaum näher gekommen.

Retrofitting the American Dream

Krisenzeit

Visuell bedient sich das „Museum of Dwellings“ einer Studienarbeit namens „Retrofitting The American Dream“ von Artur Nesterenko. Diese Arbeit beschäftigt sich mit phantasievollen Lösungen für sozialräumliche Veränderungen, die als Folge der globalen Wirtschaftskrise prognostiziert werden: Der US-amerikanische Städtebau der Nachkriegsjahre, mit seiner auf Mobilität und Pendler basierten Struktur, sei in Zeiten von Rohstoffknappheit und und Peak Oil nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es werde daher zu einem Massenexodus der Vorstädte kommen – so die Theorie. Belege lassen sich bereits heute in einigen amerikanische Vororten finden, die durch Massenzwangsvollstreckungen infolge der Banken- und Immobilienkrise nahezu völlig entvölkert wurden.

Genau hier setzt die Arbeit von Artur Nesterenko an. Die verlassene Bausubstanz der Vorortssiedlungen soll nicht abgerissen, sondern kreativ in neue Wirkungsstätten umgestaltet werden. Das visuelle Zitat greift damit die eingangs besprochene Thematik der Neuorientierung von Lebensraum infolge sozialer Veränderungen wieder auf, bei denen Kirchen zu Amtsgebäuden und Amtsgebäude zu Theaterbühnen werden.

Spuren der Wirtschaftskrise finden sich auch in anderen Szenen. Ein Arzt berichtet von Studienverstuldung und Medikamentenpatenten, während wir uns in einer idealisierten Traumwohnung der 50er Jahre befinden. Sein Name, Dr. Truman, verweist auf den gleichnamigen US-Präsidenten. Dessen Fair-Deal-Programm enhielt unter anderem den gescheiterten Versuch, eine Art Bürgerversicherung einzuführen.

Sichtweisen

Der letzte Themenkreis, den ich etwas genauer beleuchten will, sind Parallaxe. Darunter versteht man die scheinbare Veränderung eines Objektes, wenn man es aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Das einfachste Beispiel wäre das linke und rechte menschliche Auge, die abweichende Bilder liefern um eine räumliche Darstellung zu gewährleisten.
Parallaxe sind allgegenwärtig in Akt 2, nicht nur in der Innen- und Außenthematik. Für SpielerInnen sicherlich sofort identifizierbar ist das Parallax-Scrolling der Waldszene, welche eine Hommage an das Gemälde „Le blanc-seing (carte blanche)” des belgischen Surrealisten René Magritte ist. Aber auch die Dias der Präsentation im Büro enthalten klassische Parallaxe-Erklärungsdiagramme während in der Predigt das Sehen mit linkem und rechtem Auge gepriesen wird. Es gibt Anspielungen auf die Nutzungen von Parallaxen zur Sternenvermessung und schließlich bereisen wir im Spiel Orte aus der ersten Episode, nur dieses mal aus der Sicht der Route Zero. In einem Deja Vu treffen wir dabei unser früheres selbst beim Besuch der Elkhorn Mine.

Parappaxe

In der Literatur tauchte der Begriff Parallaxe zum ersten mal in Verbindung mit James Joyces Ulysses auf, das Handlungen aus der Sicht unterschiedlicher Figuren zeigt. Für den Leser ergibt sich daraus ein umfassenderes, multiperspektivisches Gesamtbild der Handlung. In Akt 2 finden wir ähnliches in der Museumssequenz, in der Text- und Spielebene aus zwei unterschiedlichen Perspektiven dargestellt werden. Während wir mit Conway und Shannon durch das Museum laufen, stammen die Textkommentare aus der Zukunft, wenn die Museumsleitung die Bewohner über unseren Besuch befragt.

Die Entwickler, Cardboard Computer, sehen zudem eine eine Verbindung zwischen Parallaxen und den Aspekten von Umsiedlung und Umnutzung:


„For us, this idea of parallax — basically that something can be understood more completely when viewed from two different perspectives alternately/simultaneously — resonates with the issue you identify as ‘relocation’. People are displaced from their homes or places of worship/culture, etc., and then the real tangible & human identity of the place becomes a sort of composite of its former role as a site of life/worship/culture/etc. & its current role as a site of oppression or as a space that tries to be anonymous but still echoes an oppressive trauma.“


Fazit

Die zweite Episode legt ihre Schwerpunkte auf Architektur, Philosophie und verschiedene Perspektiven auf Migration und soziokultureller Wohnfragen. Wie in der vorangegangen Episode gibt es allerdings noch zahllose weitere Themen: So ließe sich noch die Natur der unterirdischen Route Zero analysieren, der Hintergrund des Meteoriteneinschlags erforschen oder über Alter, Jugend und Gesundheit philosophieren. Nicht zu vergessen die Tier- und Natursymbolik, die den Zweiten Akt durchzieht. Vielleicht beim nächsten mal.
Wer nicht auf die dritte Episode warten möchte, der darf sich so lange an Daniel Winters Twine-basiertem Fan-Fiction-Projekt „On the Road” probieren.


Gastautor Magnus macht sich nicht viel aus Twitter oder Facebook, man kann ihn jedoch mittwochmorgens im Stadtbad Schönberg antreffen.