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Sunshine

Es war der Kontext, der das Fass zum Überlaufen brachte. Niemand möchte, dass dieses spezielle Fass überläuft, denn das beinhaltet den schmalen thematische Übergang von Spiel, Kunst und Kommerz. Das K-Wort ist gefallen. Lange habe ich überlegt, wie ich es schaffe könnte, dieses eine Thema und besonders jenes Wort zu vermeiden, das seit Äonen durch die Feuilletons dieser Welt geistert und dessen Klang und Aussehen bereits den Puls so vieler Computerspieler und Spielerinnen anschwellen ließ? Im Zusammenhang mit Sunshine von David Surman, Ian Gouldstone und Paul Callaghan aus dem Experimental Game Pack 01 lässt es sich nicht mehr unterdrücken. Tief Luft holen. Hinsetzen. Augen auf: Kunst. Kunst! Kunst!!! Mit Ausrufezeichen und all dem bedeutungsschwangeren Kontext. Die Warnung sei ausgesprochen.

Ob sich jemand der Möglichkeit verschließt, dass Computerspiele prinzipiell Kunst sein könnten, hängt in erster Linie von seinem Kunstbegriff ab. Dieser Kunstbegriff den jeder, selbst ein Uninteressierter, unbewusst mit sich herum schleppt, ist ein ziemlich diffuses und kompliziertes Etwas. Seit der Mensch denken und malen und Steine bearbeiten kann, scheitert er vermutlich am Versuch zu erklären, was Kunst ist.

“Kunst ist relativ zwecklos und absolut sinnvoll.”
(Peter Horton *1941)

Das wäre eine mögliche Definition, die je nach Humorkompetenz des Lesers bestimmte Reaktionen hervorrufen kann. Die Fragestellung ist dermaßen komplex, dass mehr als eine rein subjektive Momentaufnahme gar nicht möglich ist. Kunstrichtungen, Strömungen, Tendenzen und Exklusionen, jeder dieser Begriffe wird umhüllt von einem hart umkämpften Fog of War, den ich selbstverständlich auch hier nicht zu lüften vermag. Denn in einem Punkt hatte Roger Ebert in seinem Text “Video games can never be art” Recht: Wir könnten den ganzen Tag mit Definitionen spielen und würden doch immer eine Ausnahme finden. Mehr als eine subjektive Befindlichkeit meinerseits zu Kunst und Spielen kann ich hier also nicht liefern. Das hier ist kein Plädoyer, keine Bestandsaufnahme, keine absolute Wahrheit. Es gibt so viele Kunstauffassungen wie es Menschen gibt, die sie denken können. Richtig oder Falsch sind keine geeigneten Kategorien, um diese Fragestellung anzugehen.

Vielmehr finde ich folgende Fragen bei jedweder Form von Kulturprodukt angebracht: Hat diese Kunst oder jenes Werk für mich eine Bedeutung? Hat sie vielleicht eine Bedeutung für die Welt, den Künstler, was sagt sie über die Welt aus, den Kontext, den Enstehungsprozess, ist sie selbstreferentiell oder sozialkritisch oder oder oder oder? Ob diese Art der Fragen für einen Menschen grundsätzlich interessant sind, hängt sicher von vielen Faktoren ab und niemand kann gezwungen werden, Freude an der Annäherung an solche Themen zu empfinden. Ich habe meine ganz spezielle, persönliche Art der Freude daran und dieser Freude zuliebe, entstehen diese Gedanken.

Kunst und alle Kulturprodukte haben etwas gemeinsam: Sie sind oft unfassbar selbstreferentiell. Die Anzahl der Philosophen ließe sich vermutlich vierteln, wenn sie nicht das Thema “Was ist Philosophie?” für sich entdeckt hätten. Reihenweise Bücher wurden gefüllt über “Was zur Hölle ist ein Gedicht?” und Musiker, die über das Musik machen schreiben, gibt es ebenfalls wie Sand am Meer. Last but not least: Ein Großteil von Kunst beschäftigt sich ebenfalls mit der Frage, was Kunst überhaupt ist, was sie kann, darf, soll oder muss. Als Picasso 1912 begann Zeitungsschnipsel in seine Bilder zu kleben und so eine Frühform der Collage entwickelte, stand wieder diese eine Frage im Vordergrund: Was ist eigentlich ein Bild, was darf es und ist es ein überhaupt noch ein Bild, wenn ich Dinge aus einem anderen Kontext hinzufüge?

Dieser Prozess veränderte weniger das Kunstwerk an sich, sondern hatte entscheidende Auswirkungen auf den Bildbegriff der Moderne. Ein in sich hermetisch abgeschlossenes Bild ohne außerbildlichen Bezug wird es nicht mehr geben. Aber gab es das jemals? Im übrigen gab es auch Künstler vor Picasso und Braque, die verschiedene Schnitt- und Klebetechniken in ihre Hobbykunst integrierten, von Malern der sogenannten “Hohen Kunst” war das allerdings neu. Im 20. Jahrhundert bröckelte also langsam die Vorstellung vom in sich ruhenden Künstler, der in seinem Atelier mit unglaublicher Kunstfertigkeit Bilder erschafft, deren Reiz besonders in der Wahl des Motivs, der Farben oder Komposition lag. Moderne und Post-(Post-Post-³) moderne Kunst begann immer mehr zu hinterfragen, was alles Kunst sein darf, was mit unserer Umwelt, was mit unserem Sprachgebrauch eigentlich falsch läuft (Dada). Die Frage nach dem Rezipienten rückte in den Vordergrund und vieles mehr. Visuelle und konkrete Poesie, Performances, Ready Mades, Video Art, riesige glänzende und millionenschwere Kunststoffpudel? Das alles ist und war Kunst im 20. Jahrhundert bis heute und – so mein Eindruck – leider fällt es immer noch einigen schwer, das zu akzeptieren oder anzuerkennen.

Warum diese lange Vorrede für ein eigentlich unglaublich kurzes Spielchen, das sich in einer kleinen Spielesammlung befindet? “Kunst fängt nie bei Null an”, sagte irgendwann Irgendjemand und hatte wie Dirk von Gehlen mit “Mashup” Recht: Kunst oder auch jedes Kulturprodukt wie Musik, Film oder ein Spiel baut direkt oder indirekt auf Vorhergegangenes auf. Genau in diesem Sinne steht Sunshine in einem Kontext und spart nicht mit Referenzen auf die Kunst der Postmoderne. Ob etwas Kunst ist oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, in welchem Kontext es steht. Da gibt es ein ziemlich einfaches Prüfverfahren, das ich nur jedem ans Herz legen kann: Liegt, steht oder hängt es im Museum? Kunst. Liegt, steht oder hängt es in einer Tankstelle oder in der eigenen Wohnung: Keine Kunst. Ausnahmen bestätigen immer die Regel. Im Zweifelsfall hat der Künstler Recht. Ich habe “Fontaine” von Duchamp vor Ort in Rom bewundern können. Ja, es lag eindeutig im Museum und ich habe das Pissoir genauso angesehen, wie all die Kunstwerke von Renoir oder Picasso kurz zuvor. Kein Zweifel: Kunst. Und in diesem konkreten Fall von Sunshine? Die Umgebung ist hier das “Experimental Game Pack 01” und “Experimental” ist ein eindeutiger Hinweis auf eine kreative Spielauffassung, möglicherweise – aber nicht ausgeschlossen – jenseits kommerzieller Interessen. Grund genug das Spiel eines zweiten Blickes oder eines dritten Gedankes zu würdigen.

Die Steuerung von Sunshine ist zunächst mehr als simpel. Pfeiltaste links oder Pfeiltaste rechts. Wir steuern das Abbild eines Windhundes, der sich vor vom Himmel fallenden Tetrisobst versteckt oder reinrennt. Wir haben fünf Positionen zur Auswahl und können uns nun entscheiden, ob wir versuchen, dem bunten Obst auszuweichen. Ist das schon das Spielziel? Nein. Eines ist sicher, ein Spielziel, Tabellen und Belohnungen sucht der Spieler das hier vergebens (Sagte Roger Ebert nicht, das sei ein wichtiger Grund, warum ein Spiel niemals Kunst sein könne?). Stattdessen umgeben uns ausschweifend grelle Bilder, Pop-Art-Visionen und Aufblenden, anschwellende Musik und eine an Dyad erinnernde psychodelische Anziehungskraft. Die gerasterten Videobilder erinnern stark an die aus der Pop Art bekannte Siebdrucktechnik, mit der beispielsweise Roy Lichtenstein seine Bilder produzierte und so eine Hommage, wie auch eine Infragestellung des unendlich Reproduzierbaren herstellte.

Pop Art wie wir sie seit Mitte der 1950er Jahre kennen, war auch stets eine ironische Brechung mit den kommerziellen Idolen. Einerseits ist Verehrung, wie beispielsweise in Andy Warhols Marilyn deutlich spürbar, andererseits wird durch Austauschbarkeit des eigentichen Bildes das Produkt “Marilyn” als solches hervorgehoben. Jeder könnte sich das Bild hundertfach in den Salon hängen, die Einzigartigkeit ist zunichte. Die Möglichkeiten der Vervielfältigung durch den Siebdruck stellen einerseits Nähe als auch Entfernung zum Bildgegenstand dar. Und hier? Was bedeutet es, wenn sich die Macher von Sunshine eindeutig auf eben jene Kunstrichtung beziehen? Sie verwendeten nur wenige Standbilder in Siebdruckmanier, es wurde das Bewegtbild zerlegt, was in Anbetracht der heute gängisten Medienform, dem Video, nur konsequent erscheint. Das Schrille, das übertrieben Bunte und vermeintlich einfache Spielprinzip drückt Verehrung und Verachtung gleichermaßen aus. Bilder von Coca Cola, dem Sinnbild moderner Marketingstrategien und Konsumorgien blitzen auf. Das Modell eines Casual Games, das sich durch minimalste Anforderungen an den menschlichen Verstand auszeichnet und durch effekthaschende Bewegtbilder seinen Spieler an sich bindet, wird hier im gleichen Maße kritisiert, wie das Medium Spiel an sich ob seiner Möglichkeiten verehrt. Die Prinzipien der Effekthascherei und der Bindung scheinen grenzenlos. Die Eingangs in der Kunst angesprochene Selbstreferentialität wird hier wunderbar demonstriert. “A playable Picture” heißt es in der Beschreibung des Spieles und genau das trifft es. Wie in einer Collage nehmen die Entwickler Schnipsel aus anderen Kontexten und fügen sie ein. Dabei entsteht nicht etwas, das aus vielen Teilen zusammengesetzt ist, sondern etwas Neues, etwas Eigenständiges. Insbesondere etwas, das mit gängigen Methoden der Bildbeschreibung nur schwer zu fassen und mit gängigen Methoden der Spielereviews ganz besonders schwer zu fassen ist. In diesem Sinne ist auch Sunshine wie die Marilyn-Serie von Warhol nicht etwas, das durch die korrekte Wiedergabe des “Dings” zur Kunst wird, sondern durch die Untersuchung neuer Methoden visueller Grammatik.

Sunshine ist für mich somit eine interaktive Bildinszenierung, die neben medientheoretischen Fragestellungen auch Raum lässt für biographische Bezüge. So basiert der Titel Sunshine auf dem Geburtsort des Künstlers Leigh Bowery, der besonders durch seine schrillen Performances bekannt wurde. Schrill wäre übrigens auch eines jener Adjektive, welches diesem Spielbild oder Bildspiel angemessen wäre. Schrill ist vielleicht auch die lange Herleitung, um dieses kurze Machwerk angemessen zu beschreiben und zu versuchen es mit Methoden der Werkanalyse zu umschreiben. Schrill ist ganz sicher die Menge an weiteren Bezügen (etwa der überzüchtete Windhund), die sich in diesem Spiel finden lässt. “Die Kunst ist der natürliche Feind der Normalität.” Alles schrill.


Das Spiel Sunshine stammt von David Surman, Ian Gouldstone & Paul Callaghan und ist Bestandteil vom Kollektiv-Projekt LA Game Space, das am 7. Dezember 2012 erfolgreich via Kickstarter finanziert wurde. Das daraus entstandene Bundle beinhaltet Werke von zahlreichen namhaften Indie-Entwicklern und kann bis zum 29. September 2013 für 15,00 USD gekauft werden.