Mind: Path to Thalamus – Wahre Schönheit kommt von innen
Mind: Path to Thalamus – das klingt nach einem Rollenspiel, in dem sich ein Held mit einem dunklen Geheimnis auf eine epische Reise zum sagenumwobenen Ort Thalamus begibt und dabei gegen böse Mächte kämpft. Zum Glück ist es das nicht. Thalamus ist kein Ort, sondern der Name eines Teils des Zwischenhirns. Der Thalamus übernimmt die Aufgabe, alle eingehenden Informationen zu verarbeiten, zu filtern und nur diejenigen zur Großhirnrinde und damit in das Bewusstsein durchzulassen, die für den Organismus gerade besonders wichtig sind. Es geht in Mind: Path to Thalamus also um Bewusstsein und Unterbewusstsein, um neurologische Prozesse, die dafür sorgen, dass wir uns erinnern, verdrängen, verarbeiten.
Mind: Path to Thalamus ist trotzdem weder Surgeon Simulator für Hobby-Neurologen noch eine Übung in Psychoanalyse. Tatsächlich erzählt es in gewisser Weise dann doch die Geschichte eines Helden mit einem dunklen Geheimnis, der sich auf eine epische Reise begibt und dabei gegen böse Mächte kämpft – allerdings verpackt als anspruchsvolles First-Person-Puzzlespiel. Entwickelt wurde Mind: Path to Thalamus über den Zeitraum von drei Jahren mit dem Unreal Development Kit von einem kleinen spanischen Team um Carlos Coronado, den Entwickler der sehr populären Left 4 Dead 2-Kampagne Warcelona.
Um in Mind: Path to Thalamus voranzukommen, müssen Level durch das Lösen von Rätseln durchquert werden. Hilfestellungen bietet das Spiel nicht, doch das Prinzip ist nach einigen Minuten Herumprobieren schnell erschlossen: Stets geht es um das Manipulieren der natürlichen Umgebung. Um den Wechsel von Tag und Nacht, um das Spiel mit Regen und Sonnenschein, mit Licht und Schatten oder sogar mit der Zeit. Als Instrument für diese Manipulationen dienen blaue Bälle, die in der Landschaft verstreut sind und wohl so etwas wie ein neuronales Netz in Kugelform darstellen sollen.
Mit einem solchen Ball lässt sich, wird er an der richtigen Stelle platziert, beispielsweise von Tag auf Nacht oder von Sonne auf Regen umschalten. Dadurch verändert sich aber nicht nur die Optik, sondern das Leveldesign selbst. So werden etwa erst bei Nacht Portale aktiviert, durch die sich entfernte Stellen erreichen lassen, Regen schwemmt Plattformen in die Höhe, die zuvor unter dem Meeresspiegel verborgen waren und eine Modifikation der Zeit macht aus einer nutzlosen Ruine einen funktionsfähigen Übergang. Was einfach klingt, wird schnell anspruchsvoll, wenn etwa mehr Manipulationen nötig wären, als Bälle vorhanden sind. In den schwierigsten Leveln gerät die Spielwelt zur komplexen Maschinerie, deren Bedienung zwar einer stringenten Logik folgt, die aber dazu zwingt, um die Ecke zu denken und manchmal auch ein gewisses Maß an Geschicklichkeit erfordert. Am Ende des Spiels kommen ungewöhnliche Bosskämpfe hinzu. Außer gelegentlich etwas langen Laufwegen gibt es an den Rätseln wenig auszusetzen: Sie machen Spaß, sind logisch aufgebaut, ideenreich und fordernd.
Das lässt sich leider nicht im gleichen Maße über die Handlung sagen. Die Geschichte um einen komatösen Wetterforscher, um eine Tragödie in seiner Kindheit und eine Tragödie in seiner jüngeren Vergangenheit, um Vater-Sohn-Konflikt, Schuld und Vergebung ist sicher gut gemeint und bietet einige originelle Gedanken. An Tiefgang und Überraschungsmomenten mangelt es aber. Die hohen Erwartungen, die durch die Metaphorik des Spiels mit ihren Bezügen zur Tiefenpsychologie geweckt werden, kann die Geschichte nicht ganz erfüllen. Und auch das stufenweise Enthüllen der Vorgeschichte über die Level hinweg funktioniert nicht ganz so überzeugend, wie es sich die Entwickler wohl erhofft hatten. Die an sich tragische Geschichte schafft es nicht, emotional zu berühren. Obwohl die Rezensionen des Spiels überwiegend positiv ausfielen, waren Storyline und Sprecher ein immer wiederkehrender Kritikpunkt.
Respekt verdienen die Entwickler für die Entscheidung, auf diese Kritik unmittelbar zu reagieren: Mitte August, weniger als zwei Wochen nach Veröffentlichung des Spiels, lieferten sie ein Update, in dem das Skript um einige sehr repetitive Stellen gekürzt wurde, und kündigten ein größeres Update für September an, für das sie das Skript umfassend umschreiben und neu aufzeichnen wollen. Spieler wurden aufgefordert, ihre Wünsche und Anregungen online mit den Entwicklern zu diskutieren. Die Bereitschaft, dem Spielerwillen entgegenzukommen, Kritik aufzunehmen und umzusetzen, zeigt, wie sehr sich Coronado und seine Mitstreiter wünschen, dass ihr Spiel geliebt wird.
Dafür wäre soviel Aufwand wahrscheinlich nicht einmal nötig gewesen. Denn das Herausragende an Mind: Path to Thalamus ist sowieso nicht die Geschichte und auch nicht das originelle Rätseldesign, sondern seine spezielle Schönheit und Atmosphäre. Die Landschaften, die aus dem Unterbewusstsein des Protagonisten erwachsen, wirken wie eine Verbeugung vor der Tradition des paranoisch-kritischen Surrealismus: Bisweilen sehen sie aus, als hätte jemand ein Dalí-Gemälde von brennenden Giraffen und schmelzenden Uhren befreit und nur die verstörende Weite des Raumes mit ein paar Ruinen und ihren trügerischen Schatten übriggelassen. In anderen Szenen erinnern schwebende Felsen an René Magritte. Selbst Höhlen-, Berg- und Waldlevel – tausendmal zuvor gesehen, tausendmal zuvor gespielt – sehen in Mind: Path to Thalamus anders aus als gewohnt. Wenn das Sonnenlicht durch herbstlich verfärbte Baumkronen bricht, ist das wunderschön, und doch wirkt die Szenerie gleichzeitig artifiziell, verfremdet, bedrohlich. Carlos Coronado und dem Künstler Dani Navarro gelingt das Kunststück, die Unwirklichkeit der Landschaften durch ihre Ästhetik begreifbar zu machen: Ich befinde mich hier nicht wirklich im Wald, am Strand oder in einer Höhle, sondern durchstreife das Unterbewusstsein des Protagonisten. Dieser Aspekt lässt sich sogar als Meta-Kommentar zum Medium selbst lesen.
Der unbestrittene optische Hauptdarsteller, bei aller Schönheit im Detail, ist der Himmel. Ob bei Tag oder Nacht, ob die Sonne scheint, ob es regnet oder stürmt: Die Texturen, die Dynamik der Wolken und die Lichteffekte sind so atemberaubend, dass sie stellenweise schon fast zu sehr vom Rätsellösen ablenken. Dabei bleibt beim Blick nach oben stets ein Gefühl von Bedrohung, mag der Himmel auch noch so strahlend blau sein. Die ganz eigene Atmosphäre, die mich an Mind: Path to Thalamus fesselt, verdankt das Spiel vor allem diesen großartigen Ansichten, ergänzt durch exzellentes minimalistisches Sounddesign. Dass es sich dabei auch noch gut und fordernd spielt, macht aus Kunst ein sehr gelungenes Spiel.
Rührender als die Geschichte des Spiels selbst ist übrigens das, was die Danksagungen im Abspann über die Entwickler verraten. Sie danken darin allen, die dafür kämpfen, dass Videospiele in Spanien als Kunstform anerkannt werden. Und sie danken ihren Familien mit dem Hinweis, dass es ihr Ziel sei, diese durch das Spiel unterstützen. Das sagt viel aus über den Existenzkampf ambitionierter Indie-Entwickler. In einem krisengebeutelten Land wie Spanien ist dieser Kampf vermutlich noch eine Nummer härter. Den Kampf merkt man Mind: Path to Thalamus nicht an. Die investierte Menge Herzblut zum Glück schon.