NaissanceE: Was lange währt, wird endlich tief

NaissanceE

Nur nicht den Boden unter den Füßen verlieren. Nicht im Leben, nicht im Spiel. Im Leben nicht, weil Überheblichkeit schlecht für den Charakter ist, weil Ehrlichkeit am längsten währt, weil Arroganz der Brutleib ist für Missgunst, Zorn, Hass. Im Spiel nicht, weil tot ist, wer herunterfällt. Herunter von den abstrakten Strukturen in NaissanceE. Eigentlich steht der Tod durch Fallen diesem Spiel gar nicht gut zu Gesicht. Wer mittels Trailer ein paar erste Eindrücke sammelt, vermutet womöglich einen Dear Esther-Klon oder eine kubistische Version von Proteus. Beides ist NaissanceE nicht.

Im Indie-Bereich macht sich inzwischen ja durchaus eine gewisse Abgeklärtheit breit: Pixeloptik, pure Exploration, adaptive Geräuschkulisse — alles schon gesehen. NaissanceE bemüht sich jedoch nicht um Nachahmung. NaissanceE verschwendet meine Zeit nicht mit der Erkundung eines leeren Raumes. Das Spielerlebnis wird stattdessen dominiert von einer unsäglich wienerisch-traurigen Melange aus Weg- und Sinnsuche. Via Ego-Perspektive suche ich nicht etwa den nächsten Punkt in der Landschaft, an dem es weiter geht. Ich übe mich darin, herauszufinden, wie ich überhaupt vom Fleck komme – bisweilen wird das durchaus rätsellastig: Dann wollen etwa zwei schwebende Lichtkugeln so arrangiert werden, dass sie die Blöcke in meiner Umgebung beleuchten und sie damit begehbar machen. Ein Schalter sorgt für eine neue Lichtquelle, die wiederum einen gänzlich neuen Weg freischaltet.

NaissanceE

Überhaupt, das Licht. NaissanceE lebt von Perspektiven. Manchmal betrachte ich meine Umgebung und sehe nichts. Ich wedle mit der Maus, malträtiere die Tastatur und stelle nach einer halben Minute fest, dass ein sanftes, aber bestimmtes Umdrehen gereicht hätte, um festzustellen, dass die Welt ganz anders aussieht, wenn ich sie nur im richtigen Licht sehe. Erst der Lichteinfall lässt mich bestimmte Kanten überhaupt erkennen, sagt mir, wo ich langlaufen kann und wo ich herunterfalle. Unangenehmer Nebeneffekt: Mir wurde beim Spielen manchmal schlecht. Dass ich in 270 von 360 Grad Drehung nichts sehe, die restlichen 90 Grad mich aber mit allen Informationen versorgen, die ich zum Spielen brauche, wollte mein Nervensystem nicht verstehen.

Während mein Übelkeitsgrad schwankt, jubiliert mein Geist. NaissanceE sieht im besten Sinne des Wortes fantastisch aus. Bisweilen fühle ich mich wie in Fritz Langs Metropolis, so mächtig wirken die in Stein gehauenen Wolkenkratzer im Hintergrund – stets greifbar jedoch, immer begehbar. Jeden Fenstersims, jeden Balken kann ich prinzipiell erreichen um darauf herumzulaufen. Nur fallen sollte ich nicht. Ein Spiel mit dem Tod ist NaissanceE jedoch viel weniger als ein Spiel mit meiner Wahrnehmung. Auch an M. C. Escher erinnert das Spiel. Ich steige verschlungene Treppen empor und lande schließlich wieder dort, wo ich mit dem Aufstieg begonnen habe.

NaissanceE

Grenzenlose Orientierungslosigkeit. Treppen drehen sich um, sehen komplett anders aus, wenn sie von anderer Seite beleuchtet werden. Mir wird schon wieder übel. Zudem verlangt NaissanceE manchmal millimetergenaues Sprunggeschick. Das ist schade, denn wer die Geduld für solche Geschicklichkeitsübungen nicht aufbringt, wird die architektonischen Wunder des Spiels nie erleben können. Ein bisschen weniger traditionelles Gameplay hätte NaissanceE womöglich gut getan. Die Losung lautet: Durchbeißen! Nicht aufgeben, stets weiterlaufen, immer nach vorn. Und dabei bloß nicht den Boden unter den Füßen verlieren.