Octodad: Dadliest Catch – Ein Herz für Weichtiere

Octodad: Dadliest Catch

Liebe Oktopoden, bislang war mein Verhältnis zu euch von wohlwollender Gleichgültigkeit geprägt. Sicher, ihr seid faszinierende Tiere, überaus klug und optisch die Exzentriker unter den Meeresbewohnern. Ihr könnt Fußballergebnisse vorhersagen und habt durchgeknallte Familienmitglieder wie den Wunderpus photogenicus oder das Geflügelte Papierboot (Argonauta hians). Aber meine Liebe zu euch ging nie so weit, dass ich beim Griechen auf den Calamares-Teller verzichtet hätte.

Und nun das: Octodad: Dadliest Catch – ein Action-Adventure, das mir als slapstickhaftes Gagfeuerwerk verkauft wurde – erweist sich als meisterhaft inszeniertes Rührstück und lässt mich an meiner emotionalen Stabilität zweifeln. Die Wahrheit ist nämlich: Ich habe einen anzugtragenden Oktopus ins Herz geschlossen. Wie konnte das passieren? Octodad, was ist das verdammte Geheimnis deines Erfolgs?

„Die meisten Achtfüßer (Octopoden) leben in der Nähe des Gestades und kriechen und gehen mehr, als sie schwimmen.“
Brehms Tierleben, Band 10

Da wäre zunächst die Geschichte. Der titelgebende Protagonist führt ein kräftezehrendes Doppelleben als Familienvater und Oktopus. Von seiner Abstammung weiß nicht einmal seine menschliche Familie. Nach außen als treusorgender Vater in die menschliche Gesellschaft integriert, ist der Held im Inneren getrieben von der ständigen Angst enttarnt zu werden. Schon im Alltag ist dieses Versteckspiel schwer genug. Rasenmähen und Unkraut jäten im heimischen Garten, aber auch Kaffee kochen und Einkaufen werden zu anspruchsvollen Aufgaben, wenn niemand merken soll, dass er anstelle von Armen und Beinen nur schlabbrige Tentakel zur Verfügung hat.

Octodad: Dadliest Catch

Und natürlich bleibt es nicht bei harmlosen Hausarbeiten. Octodads Familie beschließt, einen Ausflug ins Aquarium zu unternehmen und bringt ihn damit in eine verzwickte Lage: Nicht nur wittern die dort angestellten Meeresbiologen ein Weichtier meilenweit gegen den Wind, Octodad muss auch noch das Leid seiner eingesperrten Meerestierkollegen ertragen und sich seiner Urangst vor Haien stellen. Mitten in diesem traumatischen Szenario deutet sich eine Beziehungskrise an, denn Octodads Frau hat den Verdacht, dass mit ihrem Ehemann irgendwas nicht stimmt und verwickelt ihn gnadenlos in Problemgespräche. Und dann lauert da noch unentdeckt ein bösartiger Gegenspieler auf die Gelegenheit, Octodad zu Sushi zu verarbeiten.

Octodads Ausflug ins Aquarium wird zum Psychothriller. So einfach und linear diese Geschichte erzählt wird, so spannungsgeladen ist sie und so gut funktioniert sie als Metapher über die Tragik, nicht als der leben zu können, der man eigentlich ist. Schwermütig ist das aber nie, die Geschichte bleibt bis zum Schluss schreiend komisch. Anspielungen auf Indiegame-Hits und ihre Entwickler runden die tragikomische Erzählung auf der Meta-Ebene ab.

Octodad_Videos

Es liegt aber auch an der Spielmechanik, dass mich das Spiel so packt, denn sie überträgt Octodads Dilemma auf den Spieler. Im Zentrum des Spiels ist eine Gehphysik ins, die simuliert, wie sich das Gehen auf Tentakeln in etwa anfühlen dürfte. Gesteuert wird der unzulängliche Bewegungsapparat durch Mikromanagement, bei dem alle vier Tentakel einzeln angesprochen werden. Auf dem Gamepad aktivieren etwa die hinteren Schultertasten das linke oder rechte Tentakelbein, mit den Analogsticks wird dabei die Richtung der Bewegung eingestellt. Die Arme werden alleine über die Analogsticks bewegt, mit der vorderen rechten Schultertaste kann Octodad außerdem Gegenstände greifen. Klingt kompliziert? Ist es auch.

„Sie können nach allen Richtungen hin kriechen, lieben jedoch die Bewegung nach der Seite am meisten.“
Brehms Tierleben, Band 10

Im Prinzip funktioniert diese Steuerung sehr präzise – wenn man ein stets hochkonzentrierter Feinmotoriker ist. Theoretisch kann Octodad nämlich von vorsichtigem Trippeln bis hin zu riesigen Schritten alles, was Tentakel hergeben. In der Praxis ist bei mir von Präzision und Vorsicht nichts zu sehen. Ich schleudere meinen armen Protagonisten meterweise um seine eigene Achse voran wie einen Gummipropeller und nehme dabei alles mit, was nicht niet- und nagelfest ist. Entlang seiner Wege hinterlässt Octodad Zerstörung. Natürlich stellt das Spiel Aufgaben, die weit über unfallfreies Gehen hinausreichen. Fortgeschrittene Techniken wie Klettern und Schleichen oder das Interagieren mit diversen Gegenständen sind ganz schön fordernd. Immer wieder stürzt mein Octodad aus großer Höhe ab und manchmal verknoten sich seine Beintentakel so unglücklich, dass es eine Weile dauert, bis ich ihn aus seiner misslichen Lage befreien kann. So komisch die unbeholfenen Bewegungen und Missgeschicke des Protagonisten aussehen: Nach kurzer Zeit gesellten sich zu meiner Erheiterung eine gute Portion Mitleid und ein massives schlechtes Gewissen.

Genau diese emotionale Achterbahnfahrt, auf die mich Octodad schickt, ist ein weiteres Highlight des Spiels. Es ist fast unmöglich, keine starke emotionale Bindung zu dem Weichtier aufzubauen. Nie wird der Protagonist von seinen Entwicklern der Lächerlichkeit preisgegeben – was angesichts seiner Unzulänglichkeiten in einer Welt, die nicht für ihn gemacht ist, so einfach wäre. Dieser Oktopus trägt seinen Anzug mit Würde. Und obwohl sich seine Äußerungen auf gurgelnde Geräusche beschränken, die wundervoll in den Untertiteln interpretiert werden, und obwohl er in Sachen Mimik nur auf seine Augenpartie vertrauen kann, verfügt der Oktopusvater über ein großes Repertoire an Gefühlsausdrücken. Octodad gelingt mit Leichtigkeit und einem Paar trauriger Oktopusaugen, woran größere, ernstere Spiele bei mir gescheitert sind: Ich identifiziere mich mit meinem Schützling, ich leide mit ihm, ich schäme mich dafür, was ich ihm antue. Er revanchiert sich dafür mit bedingungsloser Liebe für die Menschen. Ich weiß nicht, ob ich jemals einen Protagonisten so ins Herz geschlossen habe.

“Es ist auch Haß und Mord nicht der Grundzug ihres Wesens, wie eine andere Seite ihres Naturells zur Genüge beweist. Sie kennen z.B. ihren Wärter nicht nur ganz genau und unterscheiden ihn von anderen Personen, sie lieben ihn sogar.”
Brehms Tierleben, Band 10