Random Encounters: One Night Stand
Schüchtern lächelnd steht sie vor mir, streicht sich verlegen durch ihr schulterlanges Haar und fragt schließlich, ob ich mich krank fühle. Augenscheinlich blass und zerzaust sitze ich ihr gegenüber. Nackt. Ich weiß nicht, was mich in die Wohnung dieser Person führte, neben der ich die letzte Nacht verbracht habe. Verwirrt, orientierungslos, hilflos bitte ich um eine Tasse Kaffee.
One Night Stand versetzt seine Spieler_innen in die befremdliche Situation, nicht auf den Sex hinzuarbeiten oder daran teilzuhaben, sondern nach dem vollzogenen Akt zu erwachen und sich nicht ansatzweise daran erinnern zu können. Die vergangene Nacht ist ein schwarzer Fleck im Erinnerungsspeicher, der Gedanke an den offenbar erlebten Koitus nicht mit Genuss verbunden. Ganz im Gegenteil stellen sich prompt Angst und Ungewissheit ein. Haben wir verhütet? Wo zum Teufel sind meine Freunde? Und… wer ist eigentlich die Frau neben mir?
In der Rolle des desolaten Protagonisten gilt es, über vorsichtige Detektivarbeit Informationen zu sammeln, um peu à peu rekonstruieren zu können, was vor dem Erwachen im fremden Bett passiert ist. Ein zerknüllter Flyer wird vielleicht Aufschluss darüber geben, wo man gestern einige Gläser zuviel geleert hat, eine offene Weinflasche neben dem Bett auf den trotzdem ungestillten Durst hindeuten und die bohrenden Kopfschmerzen erklären.
So sehr man sich auch bemüht, kann man in einem der maximal fünfzehn Minuten dauernden Spieldurchgänge kaum alle relevanten Details ausfindig machen, da das Durchstöbern des Schlafzimmers naheliegenderweise nur ermöglicht wird, wenn die mysteriöse Partnerin gerade nicht zugegen ist. Eine fast noch größere Einschränkung stellt zudem das eigene Gewissen dar: Öffne ich wirklich ihre Geldbörse oder den Laptop, nur um den im Suff vergessenen Namen herauszufinden? Ist es mir wichtiger, mein Gesicht zu wahren als die Privatsphäre eines anderen Menschen? Oder will ich mir all diese Fragen gar nicht stellen und renne klammheimlich davon?
Schön ist, dass die Unbekannte über ihre Rolle als menschliche Unannehmlichkeit schnell hinauswächst. Zu keinem Zeitpunkt wird sie darauf reduziert, die Partnerin für eine Nacht zu sein. Stattdessen gewinnt sie durch die Einrichtung ihres Zimmers, durch Worte und Gesten an Persönlichkeit – und so fühlt man sich nach einer Weile dazu verleitet, ihre Plattensammlung zu inspizieren, obwohl diese überhaupt nicht kontextrelevant ist. Vor allem tragen aber die per Rotoskopie erarbeiteten Animationen dazu bei, der Figur und auch dem Spiel selbst viel Leben einzuhauchen. Alle Gesten, alle Veränderungen in der Mimik geben Aufschluss über den Zustand der Gastgeberin und machen das Unbehagen im Raum greifbarer, während beide Beteiligten versuchen, stammelnd Smalltalk zu betreiben.
Gerade im Genre der Visual Novels mit ihrem üblicherweise statischen Aufbau, sticht die Dynamik der Darstellung und die Möglichkeit, mit der Umgebung zu interagieren, positiv hervor. Und anders, als das thematisierte Studentenklischee einer alkoholgetränkten Nacht mit bösem Erwachen zunächst suggeriert, werden stereotype Charakterzeichnungen komplett umgangen. Wer eine solche Situation noch nie erlebt hat, dürfte erstaunt feststellen, sich dennoch mit bestimmten Gefühlen und Verhaltensweisen identifizieren zu können, weil sie schlicht glaubwürdig erscheinen.
Da One Night Stand bereits in seiner aktuellen Form so ausgereift erscheint, darf man gespannt erwarten, wie das Game-Jam-Projekt in seiner finalen Fassung aussehen wird, die im Sommer diesen Jahres erscheinen soll.