Slender: The Arrival
Während Horrorfilme und -Literatur umständliche Konstruktionen wie Found-Footage, Tagebücher und Identifikationsfiguren verwenden, um die Einschränkungen ihrer indirekten Erzählweise zu überlisten, können Videospiele den Schrecken direkt erfahrbar machen. Ein bisschen Interaktion, einfache Bewegung im dreidimensionalen Raum und unser Hirn lässt sich davon überzeugen, dass die Spielwelt wie die Realität funktioniert. Etwas das auf den ersten Blick genauso aussieht, so klingt und sich so verhält, wie ein finsterer Wald? Der perfekte Ort um Opfer einer Räuberbande, eines Wildschweines oder eines unglücklichen Sturzes zu werden. Instinktiv wird der Überlebensmodus aktiviert: Erhöhte Konzentration, Angst und Furcht. Eine bedrohliche Atmosphäre, in der jedes Geräusch einen Adrenalinschub auslöst.
Das kleine Spielexperiment “Slender: The Eight Pages” aus dem Jahre 2012 konnte diese Art des Horrors vorbildlich umsetzen: Acht zufällig verteilte Zettel in einem nächtlichen Waldareal finden, nur mit einer Taschenlampe bewaffnet und von der geheimnisvollen Figur des Slender Man verfolgt. Die hagere, gesichtslose Gestalt erscheint immer da, wo man sie grade nicht erwartet; dort wo eben noch der Lichtkegel den Pfad als sicher markiert hat, im Augenwinkel oder direkt hinter dir. Wer ihm zu nahe kommt oder zu lange anblickt, der verliert – wenn er nicht vor Schreck gestorben ist. Unzählige Slender-Videos auf Youtube ziehen ihren Unterhaltungswert daraus, anderen Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich vor dem Bildschirm fürchten. Sie machten das Spiel von Mark J. Hadley zum viralen Hit. Dass der Mythos des Slender Mans ursprünglich in einem Photoshop-Wettbewerb erfunden wurde, machte die Erfolgsgeschichte perfekt. Slender Man – ein echtes Internet-Phänomen. Slender: The Arrival will hier anknüpfen und aus dem Experiment ein richtiges, kommerzielles Spiel machen.
Den besten Moment in Slender: The Arrival erlebe ich in den ersten 5 Minuten. Heller Tag, ein Autounfall, man folgt einem breiten Pfad in den angrenzenden Wald, die Dunkelheit bricht herein, ungewöhnlich schnell. Meine Schritte knirschen im Kies, unheimliches Knacken im Unterholz. Vor mir ein ein Licht, ein Haus mit Vorgarten, Schaukel, Garage. Die Tür steht offen, das Haus ist leer. Spuren von Verwüstung, merkwürdige Kritzeleien an den Wänden, von draußen dringen Schritte(?) herein. Ich drehe mich um und werfe vor Schreck die Maus vom Schreibtisch. Das Kabel verheddert sich und beschleunigt den Apfelsaft in Richtung Fussboden. Ich hole einen Lappen.
Kein Slender Man hat mir das angetan, es war der pixelige Schatten meiner Spielfigur, den die Unity-Engine an die Tür geworfen hat.
Alle Befürchtungen, ob das Slender-Experiment auch als richtiges Spiel funktioniert sind auf einen Schlag verflogen. Offenbar hat man verstanden, was gute Horrorspiele ausmacht, dass es bei Slender nie darum ging das Monster auszutricksen um acht uninteressante Zettel einzusammeln. Es geht um den Weg, die Erfahrung, das Umherirren im Wald in dem Wissen, dass ein Blick über die Schulter den Schrecken offenbart. The Arrival macht all das richtig – und ich will mehr davon.
Der darauffolgende Abschnitt ist das ursprüngliche Experiment in Hübsch. Der Wald ist waldiger, die Schatten schattiger, die Geräusche geräuschiger und der Grusel gruseliger. In der Ferne erscheint ein heller Fleck, ist es einer der Zettel? Beim Näherkommen verschieben sich die Baumreihen und offenbaren die Gestalt des Slender Mans. Bild und Sound werden verzerrt, panisch drehe ich mich um und renne ziellos in den Wald. Bloß weg hier! Zwei Minuten später hat mich der Slender Man erwischt. Game Over. Eingesammelte Zettel: 3 von 8.
An dieser Stelle hatte ich damals “Slender: The Eight Pages” ausgeschaltet. Es gab nur diesen einen Wald, diese eine Erfahrung. Ich hatte sie gemacht und war nachhaltig beeindruckt. Aber ich verspürte kein Interesse, das Spiel neu zu starten um nun alle acht Seiten zu sammeln. Wozu auch? Der Weg war das Ziel und der Weg war großartig.
Es ist erstaunlich wie ein einziger, winziger Baustein ein ganzes Spiel verändern kann. Bei Slender: The Arrival ist es die Geschichte. Der Waldspaziergang mit dem Slender Man ist keine isolierte Erfahrung mehr, sondern der zweite Abschnitt eines größeren Zusammenhanges, einer kleinen Erzählung deren Prolog noch ganz andere Qualitäten aufgezeigt hat. “The Eight Pages” konnte man jederzeit abbrechen ohne das Gefühl zu haben, etwas zu verpassen. In Slender: The Arrival sieht das anders aus. Auf einmal gibt es den Druck, alle acht Zettel zu sammeln. Gewinne den Level, um den nächsten zu erreichen. Ein Druck, der sich verheerend auf das Spiel auswirkt.
So erlebt man beim ersten Versuch die gruseligsten Momente, die ein Videospiel nur bieten kann. Der zweite Durchlauf ist immer noch furchterregend, der vierte scheitert bei 6 von 8 eingesammelten Seiten weil der Slender Man direkt aus dem Nichts erscheint. Game Over ohne die geringste Chance. Der siebte Versuch endet bei 5 von 8 Seiten, weil man den Slender Man absichtlich ignoriert hat; der achte, weil man in einem Baum hängen blieb. Der Grusel ist längst der nackten Spielmechanik gewichen. Eine Mischung aus Ärger und Frust dominiert da, wo pure Angst sein sollte. Nun gut, verbuchen wir diesen Abschnitt als Hommage an die eigenen Wurzeln. Ab jetzt geht es aufwärts!
Auf die Anweisung „Find the eight pages!“ folgen die schönen Level „Activate the six generators!“ und „Close the eight windows/doors!“, die das gleiche Bild bieten: Fünf fantastische Minuten, dann eine knappe Stunde Wiederholung und Frustration. Der letzte Generator ist gefunden? Slender Man erscheint in der einzigen Tür des Raumes. Game Over. Einen leichteren Schwierigkeitsgrad für Menschen, die Slender als Horror-Geschichte und nicht als Wettrennen genießen wollen, gibt es nicht. Auch das Finale kann nichts mehr retten. The Arrival endet mit einem Antiklimax in dem eine schlechte Idee schlecht umgesetzt wurde.
Nebenbei wird man mit der Nase auf all jene Unzulänglichkeiten gestoßen, die man bei einem einmaligen Durchlauf gar nicht bemerkt hätte: Der übermäßige Gebrauch von “gruseligem” Graffiti, diverse Bugs, unsichtbare Wände und nicht zuletzt die Nutzlosigkeit der zentralen Metapher. Dank der First-Person-Perspektive nimmt man zwar aktiv am Geschehen Teil, doch The Arrival wird inszeniert, als wäre es die Aufzeichnung einer Videokamera. Das Spiel hindurch wird man von einem roten Aufnahme-Symbol und der Batterieanzeige begleitet – “Blair Witch Project” und “Cloverfield” lassen grüßen. Im Found-Footage-Film soll das bewusste Einbeziehen der Kamera die eigentliche Inszenierung kaschieren und Authentizität suggerieren. Doch dem First-Person Videospiel fehlt die Vermittlungsinstanz der künstlich schwebenden Filmkamera. Der Versuch, sie ausgerechnet in die Geschichte eines Spieles zu integrieren, ist daher bestenfalls irritierend. Immerhin erklärt die Kamera-Metapher die schicken Statik- und Verzerr-Effekte.
Slender: The Arrival ist zweifelsohne ein sehr gruseliges Spiel. Doch es fühlt sich wie ein Map-Pack für “Slender: The Eight Pages” an, statt wie eine eigenständige Horrorgeschichte – ein ärgerliches und unglaublich furchterregendes Map-Pack.