Sunless Sea: Teenagerliebe

Es ist nicht sonderlich kreativ, seine Beziehung zu einem Spiel mit einer Beziehung zu einem Menschen zu vergleichen. Andererseits bin ich auch kein sonderlich kreativer Typ. So sehr ich auch grübelte, kein Vergleich passte besser zu diesen wenigen Tagen und vielen Stunden als das umfassendste, intensivste und schmerzhafteste Glück, das wir Menschen kennen.

Sunless Sea war meine Teenagerliebe.

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Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Als ich Suse das erste Mal traf, schwärmte ich noch zu sehr für ihre große Schwester (denn die war eigen und mysteriös, kannte tolle englische Wörter und brachte mir die Bedeutung von Sätzen wie “Christen Jack from a stuttering fence” bei), und sie war schlichtweg noch sehr unreif.

Es war der zweite Blick, bei dem es funkte. Und oh, wie es funkte. Aus dem geplanten kurzen Reinschauen wurden Stunden, wurden Tage. Empfand ich es bei unserem ersten Treffen als Anstrengung, länger als eine Stunde am Stück mit ihr zu verbringen, verging die Zeit nun wie im Fluge. Und binnen dieser ersten vier Stunden merkte ich, dass wir hier was ganz Besonderes hatten. Suse war keine, mit der ich nur flüchtig zu tun haben wollte. Ich wollte mehr. Ich wollte sie.

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Teenagerliebe (oder Liebe generell, wenn wir ehrlich sind) ist nicht vernünftig, rational oder überlegt, und niemand liebt stärker als ein Teenager. Anstatt Persönlichkeit zu zeigen und wie ein Erwachsener Kompromisse einzugehen, wollte ich ihr nur gefallen. Na und, dann mag ich halt normalerweise Permadeath nicht, aber für sie fang ich doch gern wieder von vorn an, wenn mein Kapitän nach zwanzig Stunden einer Meuterei zum Opfer fällt. Ist doch egal, Hauptsache, wir sind zusammen. Mir war klar, dass alles, was zwischen uns schief lief, meine Schuld war, nicht ihre – schließlich hatte ich vergessen, dass ich den goldenen Apfel hatte. Versteht ihr nicht? Ist okay. Ist ein Insider von mir und Suse.

Ich wollte alles über sie wissen, aber ließ sie bestimmen, was sie mir wann erzählt. Wikilesen? Nä, das ist wie Facebookstalken: Du erfährst viel über sie, aber du erfährst es nicht von ihr. Es kostete mich viele Stunden und Kapitäne, von ihr zu erfahren – aber jeder Tod lehrte mich, und keiner ward vergessen.

Ich liebte alles an ihr. Klar, alles, was mir auf den ersten Blick schon an ihr gefiel (ich steh halt auf Frauen, die mir keine Vorschriften machen, die offen sind, mit ordentlich Lore vor der Hütte), und alles, was sie mit ihrer Schwester gemein hatte. Aber was sich seit unserem ersten Treffen verändert hatte: Das Kampfsystem, die vielen zusätzlichen Inseln, das Vererben; all das gab mir das Gefühl, dass sie genau – und nur – für mich geschaffen sei. Als Ben uns zusammen auf Steam sah, sagte er mir, er fände sie öde. Als ich einem Freund von ihr erzählte, fragte er, ob ich diese Hässliche meinte. Und anstatt verärgert oder enttäuscht zu sein, lachte ich in beiden Situationen in mich hinein, und mein Herz brannte vor Freude, dass sie Suse nicht sehen konnten, wie ich sie sah. Denn sie war perfekt, aber nur für mich. Sie war perfekt für mich.

Wenn es einen Aspekt an Spielen gibt, von dem ich nicht müde werde, ihn wieder und wieder als meinen Favoriten zu nennen, dann ist es deren Eigenschaft, mich etwas erleben zu lassen, was ich so noch nie erlebte. Wenn ein Spiel das schafft, werde ich schlichtweg blind ob aller Mängel, Schwächen und “Das könnte man aber deutlich schöner machen”s. Und Suse schaffte das auf so vielfältige Arten, die meisten davon ihrem Setting entsprechend weitab jedweder Realität (einvernehmlicher Tentakelsex, beispielsweise), aber auch in einem Aspekt, der, obwohl er täglich tausende Male passiert, mir so in einem Spiel noch nie begegnete: Ich gebar ein Kind (kein Zusammenhang zum einvernehmlichen Tentakelsex).

Ich versuchte, so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen. Arbeit, soziale Kontakte, Schlaf: notwendige Übel, erträglich gemacht durch ständiges Denken an sie. Ich bewies ihr meine Liebe auf die aufrichtigste Art, die ich zeigen kann: Ich schrieb Listen über sie. Das mach ich nicht für jede!

Das Ding ist: Ich kenn mich so nicht. Ich bin keiner, der sich so Hals über Kopf und voll und ganz verliebt. Ich bin alt, und skeptisch, und Spiele nehmen einen immer kleineren Teil in meinem Leben ein. Und dann sowas, von einer solchen Intensität, mit einer Wucht wie eine Flutwelle, mich mit all meinen Vorbehalten davonreißend. Aber auch die perfekte Welle muss brechen (wie ich bei ebendiesem Lied von Juli).

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Und dann, eines Nachts, nach etwa siebzig Stunden, verschwand diese geballte Gefühlswelt auf einen Schlag. Das ist es auch, was mich dazu brachte, diesen Text zu schreiben. Das, was mir noch falscher, noch undenkbarer erschien als diese plötzliche, heftige Liebe: Das ebenso plötzliche Ende ebendieser. Klar, ich hatte eins der Spielziele erreicht, aber das hieß doch noch lange nicht, dass ich alles gesehen hatte, was Suse zu bieten hat.

Ich spielte noch ein bisschen weiter, aber die Magie war weg. Ich grindete, spielte im Fenster, um während der Schiffsreisen Webseiten anzugucken und las kaum noch, was sie mir schrieb. Das war der Punkt, an dem mir klar wurde, dass ich diese Beziehung beenden musste, solange wir uns noch mochten. So kurz diese Liebe auch dauerte, so war sie doch zu wertvoll, sie so elendig sterben zu lassen.

So viele Geschichten, die ich nicht zum Abschluss brachte, Schicksale meiner Crew, die ich nun vielleicht nie erfahren würde; die anderen, komplizierteren Spielziele und der stete Nachschub an Bugfixes und Inhalten… wir hatten doch so viele Pläne! Als ob König Schahriyâr Scheherazade schon nach 300 Tagen töten ließ.

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Ich fühlte mich in einem völlig übertriebenen Ausmaß elend, aus Gründen, die nichtmal in meinem eigenen komischen Hirn Sinn ergaben. Ich nahm Abstand, nicht nur von Suse, sondern von Spielen generell. Vielleicht muss ein Herz nach so einer Erfahrung erstmal heilen, selbst, wenn es schlussendlich doch nur um ein Spiel ging.

Eine Woche später fing ich dann wieder was mit ihrer großen Schwester an, und das ist jetzt der Punkt, an dem ich diese ohnehin schon arg bemühte Metapher Teenagerliebe nicht mehr guten Gewissens weiter nutzen kann, ohne mich wie Abschaum zu fühlen.