The Vanishing of Ethan Carter: Wald ohne Wiederkehr

The Vanishing of Ethan Carter

Ich kann mich an diesem wundervollen Herbstwald einfach nicht sattsehen. Die untergehende Sonne bricht durch die Blätter, in der Ferne ein kleines Dorf, ein paar umgeknickte Bäume, die den letzten Sturm nicht überlebt haben, säumen die lange nicht mehr benutzte Bahnstrecke. Und mitten drauf: Zwei abgetrennte Beinstümpfe. Privatdetektiv Paul Prospero sucht nach Ethan Carter, der in einem mysteriösen Brief um Hilfe gebeten hat – was genau auf den Ermittler wartet, wissen bei The Vanishing of Ethan Carter weder er selbst, noch der Spieler. Nur eines ist klar: Der acht- bis zehnjährige Junge ist nun wie vom Erdboden verschluckt und auf der Suche nach ihm stelle ich schnell fest, dass Leichen seinen Weg säumen. Es ist an mir, aufzuklären, wie diese Menschen zu Tode kamen.

Das funktioniert, indem ich bestimmte Hinweise in der Umgebung identifiziere. Einfacher wird das durch Prosperos übersinnliche Fähigkeiten – wenn er etwa sieht, dass an einer Lokomotive eine Kurbel fehlt, entsteht vor seinem geistigen Auge schnell ein Bild von dem Ort, an dem sie liegt. Vor der Aufklärung eines Mordfalls müssen solche Gegenstände dann jeweils an ihren Ursprünglichen Ort zurückgebracht werden. So entstehen nach und nach diverse Szenen der Geschehnisse, die am Schluss nur noch in die richtige Reihenfolge gebracht werden müssen. Auch andere Rätsel gibt es zwischendurch. Einmal muss Prospero beispielsweise die Räume eines Hauses richtig anordnen – ein simples Logikrätsel, das der Stimmung eine kurze Pause gönnt.

The Vanishing of Ethan Carter

The Vanishing of Ethan Carter ist aber weder ein einfaches Rätselspiel, noch ein Adventure. Es ist eine Kombination aus Dear Esther und einem Detektivspiel mit packender Geschichte. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr zeichnet sich ab, dass Ethan Carter nicht einfach davongelaufen ist, sondern es mit einem dunklen Kult zu tun hatte. H. P. Lovecraft hätte seine Freude an den Figuren, die der Spieler nach jedem gelösten Rätsel in einer Art holografischem Flashback zu sehen bekommt und deren verworrene Notizen in der Spielwelt herumliegen. Wie besessen scheinen sie ihr Ziel zu verfolgen, ohne selbst zu wissen warum. Zurückgelassen haben sie nur ihre Verzweiflung, Spuren ihrer Unfähigkeit, sich zu beherrschen, Zerstörung und Blutspuren – diese Fährte gilt es zu lesen.

The Vanishing of Ethan Carter

Die Düsternis der Geschichte hinter Ethan Carters Verschwinden ist bedrückend und fesselnd zugleich. Ergänzt wird sich durch Erkundungstouren durch die Landschaft. Zwar hat The Vanishing of Ethan Carter keine wirkliche offene Welt – Klippen, Flüsse und Schluchten begrenzen stets den Weg. Allerdings ist selbiger relativ breit, Ausflüge jenseits ausgetrampelter Pfade, verlassener Bahngleise oder vertrockneter Flussbetten sind jederzeit möglich und machen gut die Hälfte der Spielerfahrung aus. Denn The Vanishing of Ethan Carter sieht fantastisch aus. So schön, dass es Freude macht, einen alten Baumstumpf aus der Nähe zu betrachten und glauben zu wollen, dass es ihn im ganzen Spiel kein zweites Mal gibt. Möglich wird dieses Erlebnis durch eine Technik namens Photogrammetrie. Verkürzt gesagt: Das Entwicklerteam The Astronauts ist tatsächlich in den Wald gegangen und hat dort Steine fotografiert, aus allen möglichen Blickwinkeln. Danach wurden genau diese Steine am Computer nachgebildet, so lange bis sie in den exakten Abmessungen und allen Details der Realität glichen. Das Ergebnis ist der schönste Wald, den ich jemals in einem Computerspiel gesehen habe.

The Vanishing of Ethan Carter

Bei aller Pracht hat The Vanishing of Ethan Carter auch ein paar kleine Schwächen. Das Speichersystem etwa, das von den Entwicklern zwar inzwischen verbessert wurde, dennoch nach wie vor ausschließlich auf automatischen Speicherpunkten beruht, die teilweise weit auseinanderliegen. Meistens muss ein Rätsel komplett gelöst werden bevor das Programm den Fortschritt speichert. Wirkliche Kopfnüsse bietet das Spiel ebenfalls kaum. Wer in The Vanishing of Ethan Carter nicht weiterkommt, hat meist nur irgendeinen Hotspot übersehen. Oft musste ich recht lange umherwandern um zu finden, was ich gesucht habe, teilweise mehrfach, weil ich das Spiel zwischenzeitlich beendet hatte und dadurch eine halbe Stunde zurückgeworfen wurde. Nur: Ebendieses Umherwandern macht die Faszination des Spiels aus. Für das wiederholte und ausführliche Erleben der virtuellen Natur konnte ich den Entwicklern zu keiner Zeit böse sein, die schiere Stimmung dieser Welt packt mich.

Immer wenn es Herbst wird, scheint es, als sterbe der Wald ein kleines bisschen. Bäume lassen ihre Blätter fallen, Tiere begeben sich zur Winterruhe oder legen Vorräte an. Jeder vernunftbegabte Mensch weiß, dass auf jeden Herbst ein Winter folgt und auf jeden Winter ein Frühling, in dem alles wieder zu neuem Leben erblüht. In The Vanishing of Ethan Carter jedoch habe ich das beklemmende Gefühl, als könnte dies der letzte Herbst sein. Und trotzdem: Ich kann mich an diesem wundervollen Herbstwald einfach nicht sattsehen.