Ein Tag hat 24 Stunden und die wollen gewinnbringend eingesetzt werden. Einerseits für Freunde und Verwandte, für die sozialen Pflichten, die jeder Mensch hat. Auf Geburtstagsfeiern gehen, obwohl man vielleicht gar keine Lust hat, einen geliebten Menschen zu besuchen, dessen Niedergeschlagenheit auf das eigene Seelenheil zu drücken droht. Andererseits für produktives Arbeiten. Geld verdienen und zwar effizient. Die Zeit, in der ich auf eine U-Bahn warte, könnte ich auch damit verbringen, Arbeit zu verrichten, für die ich bezahlt werde. Also sollte ich dann an der U-Bahn-Haltestelle ankommen, wenn die U-Bahn auch fährt, nicht fünf Minuten zuvor. Das ist Effizienz im Alltag, die irgendwann mehr auf das eigene Seelenheil drückt als es der Besuch eines geliebten Menschen jemals könnte.
Warum schreibe ich diese küchenpsychologischen Zeilen? Weil The Beginner’s Guide ein Spiel ist, das mich wirklich, wirklich, wirklich zum Nachdenken gebracht hat. Nicht über die großen Fragen des Lebens, nicht darüber, wer wir sind und wohin wir gehen. Das ist alles Blödsinn und als Atheist habe ich da eine eingefahrene Position, die mir zwar keinen Halt gibt, dafür aber Sicherheit. Viel eher hat mich The Beginner’s Guide darüber nachdenken lassen, wer ich selbst bin und wohin ich gehen will – eine ziemlich große Leistung wie ich finde, zumal für ein Spiel, das gerade einmal zwei Stunden dauert.
Das Spiel um die kreative Geschichte eines Spielentwicklers namens Coda und dessen Spiele ist selbstreferenziell bis zum Anschlag und strahlt gleichzeitig etwas aus als wolle es mir etwas sagen. Es gibt mir das Gefühl, in das Innerste eines Menschen zu blicken und zu verstehen, was derjenige denkt, nur um mir genau dieses Verständnis dann wieder um die Ohren zu hauen. Das Gefühl kenne ich auch von anderen Teilaspekten meines Alltags jenseits von Computerspielen. Als ich kürzlich davon las, das in 1.500 Lichtjahren Entfernung ein Stern entdeckt wurde, der seltsam flackert und dass Astronomen jetzt nicht erklären können warum und die Presse deshalb die Möglichkeit einer Dyson-Sphäre ins Spiel brachten, war ich wütend und selbstgefällig zugleich. Weil eine Dyson-Sphäre ein theoretisches Konstrukt ist, das komplett um einen Stern herum gebaut wird. Und weil so eine Konstruktion natürlich die unwahrscheinlichste Erklärung für das Flackern eines Sterns ist. Weil sich die deutsche Presse aber gleichzeitig an die Möglichkeit der Existenz einer solch gigantischen Konstruktion geklammert hat wie verrückt, einfach, weil das faszinierend ist. Auch weil die Dachzeile, in der steht, dass so etwas existieren könnte, natürlich toller ist als: Stern flackert, Forscher ratlos.
Es dauerte ein wenig, dann fiel mir ein, dass ich gar kein Astronom bin. Dass ich von der Dyson-Sphäre nur aus dem dazugehörigen Wikipedia-Eintrag weiß. Und dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es ist, dass so etwas wirklich existiert. Ich habe einfach gedacht, ich wüsste, was Sache ist und dürfe mir daher jetzt ein Urteil über diese Journalisten erlauben, die über eine sensationelle Entdeckung im Universum schreiben. Ich habe darüber nicht gesprochen, es war nur ein Gedanke in meinem Kopf, nur dazu da, dass ich mich besser und überlegen fühle. Ein dummer Gedanke.
Was das nun mit The Beginner’s Guide zu tun hat, liegt nicht unbedingt auf der Hand. Das Spiel hat in mir jedenfalls ein ähnliches Gefühl ausgelöst wie ich es hatte, als mir klar wurde, dass meine Gedanken über die vermeintliche Dyson-Sphäre besserwisserischer Klugscheißer-Humbug waren. Auf vielen Ebenen. Ich ging an das Spiel heran und dachte mehrfach das Unwort „Walking Simulator“. Ich erwartete, hier mit einem Berg Spielkunst überhäuft zu werden, der spannend ist und vielleicht eine Geschichte erzählt. Nicht erwartet habe ich ein Werk mit autobiografischen Zügen, das mich dauernd die Frage stellen lässt, ob das im Spiel gerade absichtlich passiert oder ob es ein Bug ist. Ob mein PC hängt oder aber ob ich nicht das Spiel steuere, sondern das Spiel mich.
The Beginner’s Guide ist kein Spiel mit schockierenden Irrungen und Wendungen. Es führt den Spieler ganz sanft ans Ziel. Was wir tun oder nicht tun, ob wir uns ausgebrannt fühlen oder nicht, ob wir gerade glücklich sind, wissen nur wir selbst – und oft noch nicht einmal das. Aber The Beginners Guide hat nicht wirklich eine eindeutige Botschaft. Es lässt mich trotzdem zweifeln. An meiner Vorstellung von Effizienz im Alltag etwa. Ich habe das mal überprüft: Wenn ich hektisch durch die Gegend renne und alles in meinem Kopf vorplane, brauche ich für eine Tätigkeit von einer Stunde etwa fünf Minuten kürzer. Eine minimale Zeitersparnis also, die gleichzeitig massiv auf meinen Blutdruck schlägt. Es ist irrational so zu handeln, wie ich handle.
„Lisa, the point of Moby Dick is be yourself“, sagt Homer Simpson in einer Episode. Ich habe darüber gelacht, habe aber tatsächlich überhaupt keine Ahnung, worauf Moby Dick wirklich hinaus will. Klar, es geht um Rache und das fanatische Verfolgen eines Ziels, so sehr, dass es Kapitän Ahab schließlich selbst in den Abgrund reißt. Aber wo die tiefere Moral dahinter steckt? Ich weiß es nicht. Überhaupt nicht. Wenn ich aber darüber rede, versuche ich diese Tatsache so gut es geht zu verbergen,. anstatt einfach zu akzeptieren: Moby Dick ist verhandelbar – es gibt keine endgültige Wahrheit.
Und so gibt es, glaube ich, auch keine endgültige Wahrheit über The Beginner’s Guide. Ich verstehe noch nicht einmal den Titel. Anfänger wovon? Anleitung wozu? Klar, das Spiel dreht sich um zwischenmenschliche Beziehungen – nicht Liebesbeziehungen, sondern freundschaftliche oder alltägliche. Es behandelt unsere Wahrnehmung von anderen Menschen und die Tatsache, dass nicht alles, was wir zu sehen glauben, auch wirklich da ist. Es ist skeptisch. Es animiert zur gnadenlosen Selbstreflexion. Ein drittes Ding nach der Dyson-Sphäre und Moby Dick: Ich habe keine Ahnung, wie sich Kunst definiert. Ich gehe davon aus, dass das Kunst ist, was ich dafür halte und argumentiere auf dieser praktisch nicht vorhandenen Grundlage, dass Spiele Kunst seien. Dabei ist mir eigentlich völlig egal, ob sie es sind – ich will nur Schaden von meinem geliebten Medium fernhalten und argumentiere daher so stoisch wie instinktiv dafür.
Was The Beginner’s Guide also macht: Es kann einen aus den seltsamsten Situationen auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Ich ziehe in Betracht, dass es nicht auf jeden Menschen die gleiche Wirkung hat, glaube aber doch reinen Herzens, dass es auf jeden Menschen irgendeine Wirkung hat. Dass es nachdenklich stimmt. Jemand wie ich, der oft genug darüber nachdenkt, ob er pünktlich genug bei der U-Bahn-Haltestelle ist, kann dieses Nachdenken brauchen. Andere mögen da weniger stark reagieren. Nur Gleichgültigkeit, die sollte es als Reaktion auf The Beginner’s Guide nicht geben. Obwohl ich sicher bin, dass irgendwer, vielleicht Fabu, das gleich unter diesen Artikel kommentieren wird. Hab ich mich schon wieder überschätzt.