Brief und Sigl: Zôgdush, der Zwergenfresser

Lieber Zôgdush,

es kommt mir vor, es wäre erst gestern gewesen, als wir uns das erste Mal trafen. Ich, ein kürzlich verstorbener, von einem blasierten Elbengeist ins Halbleben zurückgeholter, sorgloser Raufbold. Und du, ein strammer Speerwerfer in der Kohorte Tarschiggs des Wahnsinnigen. Es war ein Moment, den ich nie vergessen werde: Die untergehende Sonne tauchte die Mauern des großen Festungswalls im Schatten Mordors in blutrotes Licht, Geier wiegten sich sanft am Abendhimmel, das melodische Brüllen eines Caragors erfüllte die Atmosphäre – und Tarschigg der Wahnsinnige, dieser lebenswerte Verrückte, hatte gerade seinen letzten Atemzug getan. Da warst DU da.

Man kann sagen, dass es mich wie ein Blitz traf. Dein schelmisches Lächeln, Deine zarte, graugrüne Haut und Deine nachtschwarzen Knopfaugen – wen wundert es, dass mich Dein Anblick ebenso wie Dein Speerwurf mitten ins Herz traf? Als ich Sekunden später auf einem der Geistertürme wieder zu mir kam, wusste ich, dass ich Dich wiederfinden musste. Ich weiß, ich weiß … Meine tote Ehefrau, mein Sohn … ja, ich scheue mich nicht, es auszusprechen: Es war alles nur eine Scharade. Das ist mir erst bewusst geworden, als ich Dich das erste Mal sah. Ach, wie viele schmerzhafte Stunden habe ich mit der Suche nach Dir verbracht! Wie viele Male, als sich der heiße Atem einer Deiner Mitstreiter mit meinem im atemlosen Nahkampf vermischte, dachte ich nur an Dich; wie Deine unteren Hauer neckisch über die Unterlippe ragen; wie Deine sanften, spitzen Ohren keck unter Deiner Stahlkappe hervorblitzen! Mein Herz, dieses kalte Herz eines Untoten, begann jedes Mal unweigerlich dumpf und stampfend zu schlagen, wenn wir uns begegneten. Und wir begegneten uns wieder und wieder.

Und dennoch; und dennoch. Du weißt es besser als ich, dass unsere Beziehung nicht einfach war. Wie viele Male endete unser liebevolles Gerangel auf dem sonnenversengten Feld der Ehre mit Unheil? Ach, Deine lieben, dummen Kampfgenossen! Wie sie uns umringten, wenn wir uns atemlos umkreisten! Ich gebe zu, dass ich bisweilen etwas ungestüm war; doch die Liebe unter Männern des Krieges ist selbst ein kleiner Krieg, und Blut ist auch nur ein Körpersaft.

Oh, mein Zôgdush! Weißt du noch, wie Du mich in finsterster Nacht hinter dem Feldlager durchbohrtest? Oder wie ich Dir, mit vernebelten Sinnen, das linke Ohr abschlug? Einerseits bereue ich es; doch wir beide wissen, dass diese Male Zeichen unserer Liebe sind und wir sie voller Stolz tragen.

Wir haben nie über die Arbeit gesprochen, doch ich habe Deinen Weg durch die Ränge der Armee Saurons mit Stolz und Fürsorge verfolgt – Deine Machtkämpfe gegen Zûggod, den Vergifter; Dein zähes Ringen mit Tarkh, dem Riesen. Du hast mich stolz gemacht, und mit Freude habe ich Dich immer nach diesen Erfolgen aufgesucht, um mich Dir zu stellen, um mich an Dir zu reiben, unsere gestählten, eisernen Muskeln aneinander zu messen.

Am meisten habe ich Deinen Humor geliebt, wenn Du kokett und neckisch Deine Leibwächter vorgeschickt hast und so tatest, als würdest Du vor mir davonlaufen … oh, und Dein Wimmern um Gnade, Du verruchter Schelm … Du weißt immer noch am besten, was mir gefällt. Und nun … ich sehe nun voll Bitterkeit, dass ich mein Leben verschwendet habe. Erst jetzt, oh große Ironie, in diesem Halbleben nach dem Tod, habe ich Dich gefunden, erblühe ich und fühle mich ganz. Meine Gefühle für Dein Volk waren immer intensiv und … zwiespältig. Wenn ich geahnt hätte, dass dieses Ziehen in der Brust, diese heiße Wallung, hier, an der Grenze zu Deiner Heimat, nur die Vorahnung war auf Dich, auf uns …

Und doch ist der Grund für diese Zeilen ein tragischer. Der elbische Geist in mir drängt mich voran; ich weiß, dass das freudlose Gespenst keine Liebe in sich trägt, sondern papieren ist, vertrocknet, leer. Nach Mordor!, so flüstert der Ghoul in meinem Kopf, und ich muss gehorchen. Es bricht mir das Herz, Dich hier zu lassen, vor diesen Mauern, Dir den Rücken zu kehren, Dich vielleicht nie wieder zu sehen … nie mehr Dein keuchendes Lachen zu hören, Dein abgehacktes Gurgeln, wenn ich Dir neckisch meinen Stahl zu schmecken gab … mein Zôgdush; mein Zôgdush.

Die Welt ist grausam, ich weiß; unsere Geschichte jedoch bricht mir das Herz. Vielleicht wird es, viele Äonen später, weit nach der Ära der Elben und Uruks, jemanden geben, der unsere Liebe besingt, unser Epos zum Leben erweckt, unsere Geschichte erzählt, von unserer Leidenschaft, unserer Liebe, der Liebe zweier Krieger, hier, im Schatten Mordors …?

Wenn dem so ist, dann weiß ich: Der Tod ist nicht das Ende.

Lebewohl.

In Liebe,
Dein Rainer

In der Serie Brief und Sigl verfasst der Journalist Rainer Sigl offene Briefe ohne Chance auf Antwort. Rainer spielt seit den Tagen des C64 und schreibt seit 2005 für unterschiedliche Medien (nicht nur) über Computerspiele. Games-Texte erschienen unter anderem für FM4, Telepolis, WASD, Standard.at, ZEIT Online und Kill Screen.