Killing Is Harmless
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Wie viele sind eines Spieles würdig? Der Spielekritiker und Geisteswissenschaftler Brendan Keogh hat mehrmals versucht, Spec Ops: The Line in der konventionellen Form und Herangehensweise eines Reviews zu begegnen. Jedes Mal fiel ihm auf, dass es nicht ausreicht, bestimmte Szenen oder Aspekte des Spiels isoliert zu behandeln – es brauchte Kontext, Details und Tangenten. Und so sah er sich zu Größerem berufen.
Das Ergebnis ist Killing is Harmless, ein fünfzigtausend Worte starkes E-Book über den Militärshooter des Berliner Studios Yager. Ein monströser Text, dessen Format keinen Platz auf Webseiten und Blogs fand und deshalb unabhängig und selbst veröffentlicht werden musste. Es ist keine herkömmliche Kritik, kein kurzer, knackiger Essay, sondern eine grandiose Studie, die Kapitel für Kapitel nacherzählt, kommentiert und interpretiert.
Vom ersten Öffnen des Menüs bis zum Ende des Epilogs untersucht der Autor Charaktere, ihre Eigenschaften und Dialoge, Orte des Geschehens, offensichtliche und versteckte Bedeutungen mit einer bemerkenswerten Beobachtungs- und Auffassungsgabe. Er versucht nicht nur, die Fragen, die ihm das Spiel aufzwängt, zu beantworten, sondern untersucht ihren Ursprung und ihre Fähigkeit, ihn zur Reflexion zu motivieren.
Die “eine”, korrekte Art und Weise, Spec Ops: The Line zu verstehen, existiert nicht. Keogh ist sich der Mehrdeutigkeit der Dinge bewusst und liefert verschiedenste Denkanstöße zur Beziehung zwischen dem Spieler und dem gespielten Charakter, der Illusion der Entscheidungsfreiheit und der verwischten Grenze zwischen Wahnsinn und Realität, Gewalt und Frieden, Realität und Videospiel.
Keogh sperrt sich mit Spec Ops und seiner Persönlichkeit zwischen wahnsinnigem Soldaten und wahnsinnigem Kritiker nicht etwa ein, sondern nimmt großzügig Bezug auf andere Texte, Autoren und Spiele, die sein eigenes Verständnis der Dinge unterstreichen und erweitern. Dem geneigten Spieleblog-Leser werden einige zitierte oder erwähnte Schriftstücke bekannt sein, zwingend ist also auch nicht jedes Einzelne Argument völlig neu. Killing Is Harmless funktioniert so aber nicht nur als spielbegleitende Lektüre, sondern auch als Übersicht der wichtigsten Texte über ein sehr wichtiges Spiel und ist – von einer handvoll Tippfehlern, denen ein besseres Lektorat gut getan hätte, abgesehen – uneingeschränkt empfehlenswert.
Es ist ein Text über Spiele in einer Gestalt, die bislang selten bis nie existierte, und die ich mir in viel höherer Anzahl und Vielfalt wünsche. Die beachtliche Menge an Zeit und Energie, die in Killing is Harmless gesteckt wurde, macht sich in Form gründlicher Recherche, zahlreicher Querverweise und Verbissenheit aufs Detail bemerkbar.
Selbst wenn es Seite für Seite aufs Geschehen des Spiels aufbaut, ist es nicht unbedingt nötig, Spec Ops: The Line vor der Lektüre beendet zu haben. Wer sich davon fern hielt, kann nachvollziehen, warum es ein so wichtiger Titel seines Genres ist. Wer es gespielt hat und darin bislang nicht mehr sah als ein weiteres Schießbudenspiel, wird eines besseren belehrt. Und wer seine Bedeutung erkannt hat, kann seine Gedanken nach dem Lesen vielleicht viel besser in Worte fassen.
Ich persönlich verbrachte bis jetzt keine einzige Sekunde im versunkenen Dubai von Spec Ops, erkannte dank Killing Is Harmless aber nicht nur die Qualitäten des Spiels selbst, sondern ebenso die Verantwortung, Problematiken und Chancen eines ganzen Genres. Töten ist nämlich gar nicht so harmlos.