Push Start: The Art of Video Games
Gästen ist die unangenehme Wesensart zu eigen, bespaßt werden zu wollen. Während hierzulande Max Goldt vor einigen Jahren in einer Kolumne vorschlug, Mardergerippe und Mittelmeerbadeschwamm zirkulieren zu lassen, um der gruppeninternen Konversation eine Starthilfe zu verpassen, wurde dem Problem in Amerika bereits mehr als einem halben Jahrhundert zuvor durch die Erfindung der sogenannten coffee table books Abhilfe geschaffen – Bücher, die sich durch ein großes Format, ihre enorme Bildlastigkeit und ihre Bereitstellung auf Beistelltischen auszeichnen. Mit “Push Start – The Art of Video Games” hat der Berliner Professor für Medientheorie, Stephan Günzel, nun wohl nicht ganz freiwillig ein eben solches Werk geschaffen.
Vorab als schriftliche Auseinandersetzung mit jener Frage bezeichnet, ob Videospiele Kunst seien, ist das Resultat zunächst ein Kompendium wunderbarer bunter Bilder, die einen fast 400 Seiten starken Überblick über die Historie des Mediums und seines steten visuellen Wandels bieten. In sechs Kapitel unterteilt, die jeweils auf einen kleinen Ausschnitt der technologischen Entwicklung Bezug nehmen, werden mal halbe, mal Doppelseiten ausfüllende Screenshots präsentiert, denen kurze Einleitungstexte vorangehen. Unter den “Early Games”, “Arcade”-, “8-Bit”-, “16-Bit”-, “3D”- und “HD”-Spielen finden sich überwiegend bekanntere Vertreter unterschiedlichster Genres, darunter Titel aus der “Zelda”- und “Super Mario”-Reihe, “Castlevania” und der Klassiker “Space Invaders”. Letzteren hebt Günzel denn, nebst einigen anderen, in den knappen Texten immer wieder als Glanzlicht gleichermaßen hochwertiger wie auch ökonomisch verträglicher Videospielkunst hervor. Zurecht, sicherlich, aber dass der Autor seine gelegentlich kühnen Thesen mit einigen, wenigen Beispielen unterfüttert, ist der Argumentationsstruktur nicht zuträglich. Und die fällt zum Teil haarsträubend aus.
“Kunst dient”, so Günzel, in Gegenüberstellung zu der insbesondere im Mittelalter religiös zweckgebundenen Malerei, heutzutage “allein der ästhetischen Erbauung oder als populäre Kunst der Unterhaltung”. So verwundert es nicht, dass er gleich in der Einleitung den obligatorischen Verweis auf das ökonomische Kräftemessen zwischen Film- und Spieleindustrie einbringt, das mit immer deutlicherer Tendenz zugunsten letzterer ausfällt. Das ist legitim, wird mit der anschließenden Aussage “und auch in puncto Storyline und Soundtrack stehen sie [Hollywood-Blockbustern] in nichts mehr nach” allerdings auf einen seltsamen Pfad geführt, in dessen weiterem Verlauf Crytek schlussfolgernd als “Künstlerkollektiv” bezeichnet und die narrative Komponente von Video- und Computerspielen beharrlich ausgeblendet wird.
Dabei ist es gerade der Inhalt, der gute Kunstwerke – und damit auch Spiele – auszeichnet. Selbst Warhols Pop-Art war eben nicht nur eine schöne, leere Hülle, sondern der Begründer einer neuen Ästhetik und deshalb so revolutionär, weil sie sich durch den Fokus auf leichte Reproduzierbarkeit gegen die bisherige Auffassung von Kunst stemmte. Weil sie damit Bezug nahm auf gesellschaftliche Prozesse. Ebenso sind komplexe Erzählungen ein bestimmendes Merkmal der gegenwärtigen Spielkultur, und nicht nur die zunehmend fotorealistische Grafik, die Prof. Günzel denn als “analog anmutend” und “die digitale Machart gänzlich” verbergend beschreibt. Diese Wahrnehmung gipfelt in der als gängig bezeichneten Skepsis an der Rolle des Spiels als Kunstform, “weil eben nicht mehr gelernt wird, ein Spiel von Grund auf zu programmieren und damit eine Idee umzusetzen”.
Nur finden sich gerade dort, wo technische Kenntnisse nicht unbedingt erforderlich sind, vielfältige künstlerische Ansätze. So unterschiedlich sie auch sind, ermöglichen Engines wie Twine und Unity den barrierefreien Zugang zu diesem Medium und öffnen damit das Feld für Experimente. Programmierkenntnisse der Anerkennung von digitalen Spielen als Kunstobjekten voranzustellen, erscheint, als würde man von jedem Maler erwarten, seine eigenen Schweineborsten zu sammeln, um daraus Pinsel zu fertigen. Passend zu dieser Auffassung von Kunst als zuvorderst klassisches Handwerk, konzentriert sich der Autor auf den technologischen Fortschritt des Mediums, benennt sorgfältig steigende Bit-Zahlen, beschreibt den Ursprung des digitalen Spiels in der frühen Computer- und damit auch Kriegstechnologie und trumpft schließlich mit der möglichen Darstellung von nahezu einer Millionen Pixel durch die letzte Konsolengeneration auf. Auch das ist nicht uninteressant, für eine tiefgehendere Stilanalyse in einem gewissen Rahmen sogar notwendig, schießt aber letztlich an dem Ziel vorbei, auf die künstlerische Eignung digitalen Spielguts einzugehen – selbst im abschließenden Kapitel, das allein diesem Thema gewidmet ist.
Auch der zum Teil fehlerhafte, immer wieder in wirren Tempuswechseln und Superlativen mündende Sprachgebrauch lädt nur bedingt zur Lektüre ein, wenngleich dieser in der ebenfalls abgedruckten, englischen Übersetzung von Gareth Davies deutlich angenehmer, da lockerer und dezenter ausfällt. Das ist bedauerlich, da so auch einige der interessanteren Thesen potenziell unter den Kaffeetisch fallen – etwa jene, dass digitale Spiele die westliche Bildtradition rückwärts durchliefen. Streit- bzw. relativ leicht widerlegbar ist zwar auch diese Annahme, weil die bildende Kunst gleichsam ihren Anfang in vereinfachten Darstellungsformen nahm und nie stringent verlief, aber immerhin ein interessanter Diskussionsansatz.
Nun ist Push Start zuvorderst ein Bildband und als solcher schön anzusehen. Die Screenshots sind gut ausgewählt, ebenso aufbereitet und zwar seltsam sortiert, da mal chronologisch und mal nicht, sie bilden aber in ihrer Gesamtheit ein interessantes Nachschlagewerk, anhand dessen sich notfalls auch selbst der eine oder andere Gedanke darum spinnen lässt, warum ein so vielfältiges Medium eigentlich keine Kunst hervorbringen sollte. Derweil dienen die auf der beigelegten 10″-LP enthaltenen Remixe von acht bekannten Stücken wie Guiles Theme aus Street Fighter II und der Space-Harrier-Titelmelodie als passende Untermalung. Die klingen ihrerseits zwar durch den starken Dubstep-Fokus, als wäre Skrillex einmal quer durch die Videospielgeschichte galoppiert, sind dadurch aber eine interessante musikalische Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Push Start präsentiert sich letzten Endes als das, was Prof. Stephan Günzel als Kunst bezeichnet: Es dient der ästhetischen Erbauung und Unterhaltung. Ob es den Begriff damit adäquat ausfüllt, wird wohl jeder für sich entscheiden müssen. Im Zweifelsfall macht es sich zumindest gut auf jedem Beistelltisch und damit das Mardergerippe obsolet.