From Russia with a broken heart - Liebesgrüße an eine Welt nach uns,
die melancholischer nicht sein könnten.
Mir wurde in meinem Leben schon eine Handvoll Male das Herz gebrochen, doch niemals war der Schmerz so süß wie bei 35MM. Wenn man sich in die Eleganz eines Endes verliebt, kommt man wohl kaum unversehrt davon.
Die erdrückende Ruhe, die mich in den Weiten Russlands zu Anfang empfängt, wirkt beklemmender, als es alle Reden über den unausweichlichen Untergang der Menschheit je sein könnten. Der russische Entwickler Sergey Noskov (Носков Сергей, möglicherweise noch bekannt durch The Train und The Light) verkneift sich den Lobgesang auf den Überlebenswillen, auf die Starrköpfigkeit der Menschen im Anblick ihres Endes und streut nur sporadisch Einzelschicksale ein, die dafür in ihrer Unaufgeregtheit umso länger nachklingen. Hauptdarsteller des Spiels ist die Stille, die wir hinterlassen; die Schönheit unserer Abwesenheit.
Der größte Teil der Weltbevölkerung ist in dem Postkatastrophenszenario von einer Krankheit dahingerafft worden. Es beginnt mit einem Husten und endet mit einer Blutlache, auf die ich im Spiel immer wieder stoße. So würdelos gehen wir zuende – ausgemergelt, häufig einsam, zusammengesunken in unserem eigenem Blut an jedwedem Ort, an dem wir uns befanden. Zurück bleiben die ausgemergelten Leichen, um die sich niemand mehr zu kümmern vermag. Trostloser sind wohl nur noch die kargen, verlassenen Häuser überall am Wegesrand, die ich nach Ressourcen durchsuche. Auch die lebenden Menschen, denen ich begegne, wecken kaum Hoffnung. Sie überleben zwar, doch wirklich lebenswert erscheint ihr Existenz nicht zu sein. Die Katastrophe war kein Befreiungsschlag, der das Beste aus den Überlebenden herausholte. Doch war sie auch kein Ereignis, dass die Grundfesten des menschlichen Daseins erschüttert hat. Sie ist einfach passiert und ein paar Menschen sind eben noch da.
Petrovich, der vom Spieler gesteuerte Protagonist, reist gemeinsam mit einem Gefährten, den er nach dem Ausbruch der Krankheit traf. Beide haben die Infektion überlebt und gelten daher als immun. Die Richtung scheint Petrovich vorzugeben, denn das Ziel ist sein Zuhause. Was ihm sein Gefährte schuldet und warum er ihn auf seinem Weg unterstützt, erfahre ich nicht. Erst zum Schluss ergibt sich eine Verbindung zwischen den beiden Männern, die jedoch keinem der beiden zuvor bewusst ist. Abseits des Weges finde ich weitere Ressourcen und – im Spiel fast wichtiger – zusätzliche eingestreute Fragmente von Geschichten derjenigen, die vor mir dort waren. Was sie gehofft haben. Auf wen sie gewartet haben. Was sie verloren haben. Unvollkommene Bruchstücke sind alles, was von der alten Welt zurückblieb.
Genretechnisch lässt sich das Spiel nur schwer einsortieren – ist es ein Shooter, weil ich eine Pistole sowie ein MG finde und auch benutze? Ist es ein Walking Simulator, weil ich gefühlt halb Russland durchwandere? Ist es Survival, weil ich kontinuierlich Nahrung sammele? Ist es Horror, weil ich zwischendurch auf die Kante meines Stuhles rutsche und nur vorsichtig um Ecken herumschleiche? Nun bin ich als Fan von The Walking Dead, Resident Evil, Left 4 Dead, The Last Of Us und Konsorten postkatastrophengeschult und wartete daher die ganze Zeit auf den Moment, in dem doch ein Zombie oder Mutant aus einem der Schatten springt. In 35mm wird Petrovich jedoch nur einmal von etwas verfolgt, bei dem sich die Frage auftut, was das eigentlich war. Ansonsten ist die größte Gefahr im Spiel ein Bär und – wieso sollte sich das durch die Epidemie auch geändert haben – andere Menschen.
Wer sich mit moderner russischer Romanliteratur oder Film auskennt, wird viele Stilelemente, insbesondere einen Hang zum fatalistischen Weltschmerz seitens einiger Charaktere sowie die gemächlichere, ruhige Erzählweise, die eher auf Monologe und Szenerie baut, besser einzuordnen wissen. Überraschen sollte einen auch nicht, dass Putin, der Status Quo Russlands vor der Katastrophe sowie die menschliche Natur allgemein immer wieder thematisiert werden. Manche der kritischen Äußerungen gehen leider verloren, da die Sprachausgabe ausschließlich in Russisch erfolgt und die englischen Untertitel teilweise recht rudimentär ist. Manchmal führt die sprachliche Barriere auch dazu, dass es eine Sekunde dauert, bis ich meine nächste Aufgabe begreife. Wenn der Schreck über das russische Menü jedoch überwunden ist (lässt sich ändern!) und die Untertitel eingestellt sind, tragen einen die Gedanken von Petrovich durch die Wälder und Städte eines entseelten Russlands.
Eine der interessantesten Spielmechaniken liegt, entsprechend priorisiert, auf der Taste 1: Petrovichs Kamera. Er erinnert den Spieler daran, dass jeder Moment flüchtig und dadurch umso wertvoller ist. Ein Foto bekämpft die Vergänglichkeit, hält Gefühle, Ideen und Gedanken eines Augenblickes fest, sodass er nicht verloren geht, sondern immer wieder besucht werden kann. Daher stammt auch der Name des Spiels: der 35mm-Film ist das meistgenutzte Filmformat. Auf diesen lässt das Spiel mich die Melancholie der Leere bannen. Dabei entstehen Bilder, die zwischen Tristesse und Eleganz balancieren. Das Spiel verewigt sich und sein Gefühl somit selbst. Der kleinste Lichtstrahl, Nebel und Regen entwickeln ihre in Spielen gern genutzte, aber selten so roh um ihrer selbst willen dargestellte Ästhetik. Und darunter liegt der graue Schutt einer zerfallenen Welt.
Ich werde sicherlich in Noskovs Russland zurückkehren – allein schon, um zu entdecken, was ich bisher übersehen habe und herauszufinden, wohin mich der Weg noch führen kann. Denn das Ende der Welt, wie 35MM es darstellt, ist vielschichtig in seinen Emotionen und das Gleiche gilt für seine verschiedenen Spielenden. Diese Facetten der Wehmut wirken mit einer unglaublichen Faszination auf mich. Ohne die Ablenkung durch Schlachten mit postapokalyptischen Monstern oder folgenschweren Entscheidungen, kann ich mich ganz in dem Wunder des Ruins verlieren. Ich zelebriere den Abgesang auf die Welt. Meine Wanderung durch die Ödnis nach der Epidemie weckt ein ambivalentes Gefühl der Entspannung und des Herzschmerzes in mir. Es ist emotional verwirrend, doch ich finde sie schön, diese Welt ohne uns.