9.03m

9.03m

Am 11.03.2011 um 14.47 Uhr Ortszeit erschüttert ein Erdbeben der Stärke 7,0 auf der JMA-Skala die Region um die japanische Stadt Fukushima, kurz darauf bricht ein Tsunami über die Küste der Präfektur Tōhoku herein. 210.000 Menschen sind von der Katastrophe unmittelbar betroffen, 20.000 von ihnen sterben, die 23.000 im havarierten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi eingesetzten Arbeiter werden erhöhten Radioaktivitäsdosen ausgesetzt, ein Drittel von ihnen stark verstrahlt. Hunderttausende Tiere verenden.

Menschen erfassen gern Zahlen, unsere Nachrichten sind voll davon. Und doch verlieren sie umso mehr an Relevanz, je größer sie geraten, denn niemand ist mehr dazu in der Lage, Einzelschicksale zu verfolgen, wenn deren Zahl ins Unermessliche wächst. So geraten die den Nachrichtenticker dominierenden, beständig wechselnden Ziffern schnell zu etwas Irrealem, und die hinter ihnen stehenden Schicksale zu bloßen Randnotizen eines Großereignisses.

Die Entwickler des schottischen Studios Space Budgie wollen mit 9,03m ein Zeichen gegen diesen paradoxen Prozess der Bagatellisierung setzen und an die Opfer von Fukushima erinnern, mir vor Augen halten, dass es sich bei den Toten nicht um anonyme Leiber, sondern um Menschen mit individuellen Biografien, Vorlieben und Sehnsüchten handelte.

Ich finde mich an einem Stand wieder, im hellen Schein des Mondes. Die Umgebung erscheint merkwürdig künstlich, kontrastreich, in verschiedenen Blautönen erstrahlend, durch die sich das Gestein vom sandigen Untergrund absetzt und in der Ferne eine menschliche Silhouette abzeichnet. Mit zunehmender Mühe konzentriere ich mich auf die dunkle Gestalt, bemerke, wie angesichts der weichgezeicheten Landschaft auch mein Blick verschwimmt. Meine schmerzenden Augen wenden sich wie von selbst von dem Geschehen ab, um es daraufhin wieder erfassen zu können. Immer und immer wieder. Nicht nur inhaltlich, sondern auch visuell ist 9.03m strapaziös, und zieht mich doch in seinen Bann. Nur die Geräusche meiner Schritte und das Meeresrauschen vernehmend, begebe ich mich denn durch die überdies fast unheimlich wirkende Stille zu der mir unbekannten, allein am Strand sitzenden Person, die sich, kaum trete ich an sie heran, plötzlich auflöst und nichts als einen Gegenstand zurücklässt – einen Fußball, auf dem ein Name geschrieben steht:

Tatsuya Sato.

Kurz darauf formiert sich der Ball zu einem leuchtenden Gebilde und verwandelt sich schießlich in einen gleißenden Schmetterling, der gen Meer fliegt und mir dabei den Weg zu einem weiteren, einsamen Menschen weist. So schreite ich denn voran, finde weitere Objekte und damit Bruchstücke menschlicher Biographien. Anfänglich skeptisch, bemerke ich schnell, wie viele Rückschlüsse durch den Fund scheinbar banaler Alltagsgegenstände auf das Leben eines Menschen und die Ausmaße einer Katastrophe möglich zu sein scheinen. Eine kaputte Taschenuhr zeigt die Uhrzeit an, zu der das Erdbeben einsetzte, eine leere Krippe einnert nicht nur an das Schicksal eines Paares, das sein eben geborenes Kind gleich wieder verloren hat, sondern an die zahlreichen Familien, die mitsamt ihrer Häuser ins Meer geschwemmt wurden und spurlos verschwanden.

9.03m

9.03m ist ein sehr kurzes, aber emotionales Erlebnis. Von den Entwicklern selbst als „empathy game“ bezeichnet, bietet es mit einfachsten Mitteln einen Gegenpol zu jener Nüchternheit, mit der Schicksale in Zahlen gepresst werden. Die subtile, zunächst piano-, später streicherlastige Musik, die abstrakte Grafik und die wenigen verschriftlichten Hinweise im Spiel entfalten im Zusammenspiel eine besondere Wirkung, die schließlich im mitreissenden Finale des Spiels gipfelt.

Wie ich erst später erfahre, ist dieser Strand, an dem ich die vergangenen fünfzehn Minuten verbracht habe, einem realen Vorbild nachempfunden: Dem Baker Beach in San Francisco, an dem nach dem Unglück in Japan beständig Strandgut angespült wurde. Kein bloßen Abfälle, sondern Erinnerungsstücke an vormals geführte Leben.


Space Budgie werden zunächst die Hälfte des Erlöses, nach einem erfolgreichen Kostenausgleich sogar jegliche Einnahmen, die durch den Verkauf des Spiels entstehen, an Aid For Japan spenden, eine Hilfsorganisation für Kinder, die ihre Eltern durch den Tsunami verloren haben.