In Syrien und Sibirien wird Lara Croft zwar nicht zum Friedensengel,
bringt aber trotzdem deutlich weniger Menschen um als im Vorgänger.
Freiheit macht Spaß. In der Realität wie in Videospielen. Wenn mich ein Spiel machen lässt, was ich will, fühle ich mich frei, mich auszutoben. Ob mir das Spiel damit etwas sagen will, frage ich mich dann höchstens noch am Rande. So dürfte es vielen gehen, die sich mit GTA die Abende um die Ohren hauen. In offenen Welten sprengen sie Eisverkäuferwagen, werfen Panzer ins Meer und schießen mit Apache-Hubschraubern auf Fahrradfahrer. Macht alles Spaß, erzählt eben nur keine Geschichte. Problematisch wird es, wenn Entwickler versuchen, das eine mit dem anderen zu vermischen – die spielerische Freiheit mit der Erzählung. Eben das wurde dem ersten Teil des Tomb-Raider-Reboots zum Verhängnis. Ein spielerisch gelungener Titel krankte daran, dass seine Protagonistin Lara Croft in den Zwischensequenzen ein verletzliches Persönchen war, im Rest des Spiels aber gern mal ihren Gegenübern mit der Schrotflinte den Kopf wegblies. Die Fortsetzung, Rise of the Tomb Raider, schickt sich spürbar an, das zu ändern.
Lara Croft hat sich seit dem Vorgänger durchaus verändert. Sie ist jetzt nicht mehr das ängstliche Ding, dass eigentlich nur in diese mörderischen Situationen geworfen wird, ohne es zu wollen. Stattdessen präsentiert Crystal Dynamics sie gleich zu Beginn als eine Getriebene, die den Spuren ihres Workaholic-Vaters nacheifern will. Der hat es nie so richtig geschafft, seinen Beruf mal Nebensache sein zu lassen und kam deswegen auch irgendwann in Verrichtung seiner vermeintlichen archäologischen Pflicht um. Lara will das eigentlich nicht, kann aber irgendwie nicht anders und macht sich deshalb auf die Suche nach nichts geringerem als dem Jungbrunnen. Das geschieht an verschiedenen Orten: erst an aktuellen Kriegsgebieten, was einen unangenehmen Beigeschmack hinterlässt, dann im Schnee von Sibirien – altes Gulag inklusive. Die Entwickler geben sich dabei jedoch alle Mühe, politisch korrekt zu bleiben. Einen Bezug auf aktuelle politische Ereignisse gibt es nicht, stattdessen kämpft Lara mit einer Vereinigung namens Trinity, der besonders in der deutschen Synchronisation der Name Dreifaltigkeit viel besser gestanden hätte. Klingt einfach böser und nicht so cool.
Die augenscheinlichsten Veränderungen im Vergleich zum Vorgänger bestehen in der Balance der verschiedenen Gameplay-Bestandteile. Die Rätselabschnitte – vorher nur ein kleiner, optionaler Teil des Spiels – nehmen nun einen viel größeren Part ein. Teilweise sind sie abermals freiwillig und erlauben es dem Spieler, zusätzliche Fähigkeiten freizuschalten. Teilweise gehört ausgiebiges Klettern, Erforschen und Rätseln aber auch zum regulären Spielverlauf. Immer wieder kann es auch zum Kampf gegen wilde Bären und Wölfe kommen, was angenehme Erinnerungen an den allerersten Teil der Reihe weckt, in denen Menschen als Gegner noch fast ein Tabu waren. Wildes Geballer gibt es deutlich weniger, es ist aber noch vorhanden – und genau da liegt der Knackpunkt: Auch wenn Lara Croft nur manchmal zur kaltblütigen Massenmörderin wird, bricht dies mit der Logik des Spiels. Angeblich will sie ja erforschen, in die Fußstapfen ihres Vaters treten und jetzt schießt sie irren Sektenabkömmlingen im Gulag mit der Pistole ins Gesicht? Das ist nach wie vor ein Bruch, der nur dadurch abgemildert wird, das sich die meisten Konfrontationen mit dem Gegner auch durch vorsichtiges Schleichen lösen lassen.
Crystal Dynamics hat sich zwar nicht getraut, die Action-Sequenzen des Vorgängers hinter sich zu lassen, dennoch ist Rise of the Tomb Raider kein schlechtes Spiel. Es leidet lediglich an den gleichen Schwächen wie sein Vorgänger, nur weniger oft. Es fügt dem Titel außerdem recht viele, sehr angenehm zu spielende Rätselelemente hinzu. Klassiker, wie das Erhöhen des Wasserstandes, das Lösen von Schalterrätseln oder das Aufsprengen von verschlossenen Türen, sind sehr organisch in Szene gesetzt. Die Welt wirkt lebendig und nur sehr selten so, als hätte ein Programmierer eine Fährte gelegt, welcher der Spieler nur folgen muss. Immer wieder kann sich der Spieler auch in dieser Welt verlieren: Jagen gehen, Pilze sammeln, versteckte Höhlen erforschen. Die typischen Rollenspielelemente des letzten Teils wurden dabei kaum verändert. In drei verschiedenen Kategorien darf der Spieler Lara Croft weiterentwickeln: kämpfen, schleichen, überleben. Erfahrungspunkte gibt es für fast alles: das Töten von Gegnern, auf die ein oder andere Weise, das finden alter Artefakte, das Übersetzen alter Schriften, ja sogar das Lernen neuer Schriften.
Ein wenig seltsam mutet das Finale des Spiels an. Es scheint, als hätten die Entwickler all das, was sie seit dem Vorgänger dazugelernt haben, plötzlich wieder vergessen. Auf einmal reiht sich Actionszene an Actionszene, Schießerei an Schießerei. Das Spiel wirft eine Gegnerwelle nach der anderen auf Lara, sämtliche Deckung bringt weg, Granaten fliegen durch die Luft, alles explodiert. Mittendrin die Protagonistin, deren Ressourcen immer knapper werden und die deswegen einen grausamen Tod nach dem anderen stirbt. Alles, was das Spiel zuvor aufgebaut hat scheint plötzlich vergessen, denn eine Möglichkeit, diese Passage schleichend zu lösen, gibt es nicht. Lara muss morden. Wie ein Aufatmen ist es, wenn die Credits über den Bildschirm laufen. Dann nämlich darf der Spieler die komplette Welt frei erkunden.
Plötzlich wird Rise of the Tomb Raider zu einer Art Open-World-Spiel light, in dem die Erforschung der Welt im Vordergrund steht und Lara wieder mehr draufgängerische Archäologin und weniger skrupellose Massenmörderin sein darf. Ich habe längst nicht alle unterirdischen Gewölbe gesehen und bin noch äußerst neugierig. Vergessen ist die grauenhafte letzte Stunde. Endlich fühlt sich Tomb Raider wieder an wie Tomb Raider – zumindest über weite Strecken.