Alphalevel: Darkwood
“Rise and shine.”
Wem in sehr jungen Jahren aus einem Märchenbuch der Brüder Grimm vorgelesen wurde, hat womöglich früh erfahren müssen, wie leicht man bestimmte Phobien entwickeln kann. Als erwachsener Mensch wundere ich mich im Nachhinein schon, dass mich im Kindergartenalter Geschichten von einem großmütterfressenden Wolf, einem in Hirsebrei erstickenden Dorf oder einem Zwerg, der sich selbst ein Bein rausreißt, nicht nachhaltig geschädigt haben. Ich weiß nur noch, dass ich aus Angst vor einer Vergiftung bis zur vierten Klasse keine zweifarbigen Äpfel zu mir nehmen wollte. Was bis heute an mir haftet, ist jedoch die vielfach geschürte Furcht vor den Untiefen des Waldes, der gleich mehrfach sinnbildlich für eine Reise ohne Wiederkehr steht. Welcher andere Hänsel wäre also besser dazu geeignet, sich die Nacht unter den erdrückenden Ästen der frühen Alphaversion des Survival-Horrors von Darkwood um die Ohren zu schlagen? Oder sie um die Ohren geschlagen zu bekommen.
Wer bei Survival-Horror immer noch gern an Silent Hill zurückdenkt, der mag die Aufmachung von Darkwood zunächst in einem ganz anderen Sinne gruselig finden. Niedrig aufgelöste, blasse Pixel, eine Überkopfansicht, bei der man vermeintlich die ganze Umgebung im Blick zu haben scheint und dazu noch ein Rausch-Filter, der höchstens zusätzliche Spannung aufbaut, wenn man diesen noch von einer überspielten Poltergeist-Videokassette her kennt. Man kann sich nun von der farbarmen Optik abschrecken lassen oder man lässt sich auf sie ein und erschrickt. Denn Darkwood setzt diese vermeintliche Schwäche gekonnt ein, indem die grafischen Limitationen die Schockeffekte zusätzlich nähren. So mag man zwar eingangs dem Irrglauben erliegen, man habe die Umgebung im Blick, doch wird einem meist auf sehr unangenehme Weise bewusst gemacht, dass außerhalb eines sehr begrenzten Sichtkegels noch einiges im Verborgenen liegt. Interaktionen mit der Umwelt sind nur möglich, wenn man sich ihr nähert und es braucht Zeit, bis man herausgefunden hat, von welchen Dingen und Wesen man sich besser ferngehalten hätte. Letzten Endes fürchtet sich der Mensch schließlich am meisten vor dem, was er nicht sehen kann.
Im Verborgenen bleiben in dieser auf das erste Kapitel beschränkten Vorabversion auch die Hintergründe darüber, was überhaupt vor sich geht und vor sich gegangen sein mag. Das krakelige Notizbüchlein, das ich bei mir trage, schickt mich auf die Suche nach einem Bunkerschlüssel, mit dem ich einen mutmaßlichen Ausweg aus diesem düsteren Baumlabyrinth finden kann. Nach dem Prolog steht zudem plötzlich ein Wolf mit Kapuzenpulli vor mir, der mich über einige der bisher eher rudimentären Survialaspekte des Spiels in Kenntnis setzt. Nachts ist es beispielsweise notwendig, aus dem Brunnen vor der eigenen Hütte zu trinken, da sonst allmählich die Lebensenergie sinkt. Der Wolf im Baumwollpelz unterbreitet mir auch erste Tauschangebote, um benötigte Gegenstände für das sehr simpel gehaltene Crafting im Spiel zu erhalten. Dann ist er plötzlich verschwunden und ich bin wieder allein mit meinem Haufen Fragezeichen. Ein weiterer Irrglaube, wie sich später herausstellen soll.
Während ich in der Nacht mein Kabuff vor den unbekannten Gefahren aus der Dunkelheit zu schützen versuche und nur rausgehe, um kurz einen Schluck Brunnenwasser zu schlürfen, erkunde ich am auch nicht sonderlich hellen Tag die Umgebung. Ich sammle Pilze, aus denen ich ein Serum kochen kann, das mir nach intravenöser Injektion bestimmte Eigenschaften freischaltet. Mehr Inventarplätze oder eine Verminderung der Aggressivität von Tieren etwa. Ich sammle Holz, um meine Bude zu verbarrikadieren und bastle mir aus anderen Teilen äußerst fragile Schlagwaffen zusammen. Diese Zerbrechlichkeit erstreckt sich auf alle Gegenstände, an denen man selten länger als ein paar Minuten Freude hat. Ein begnadeter Handwerker scheine ich jedenfalls nicht zu sein, wenn ich nach drei reingeschlagenen Nägeln meinen Hammer jedes Mal gleich mitzerdeppere. Gelegentlich treffe ich bei meiner Erkundungstour neben Hunden und Schweinen auch auf sogenannte Wilde, an denen ich eher unfreiwillig das äußerst sperrige Kampfsystem ausprobieren darf. Das Schwingen eines einfachen Nagelbretts benötigt hier gleich zwei Maustasten und das richtige Timing, um einen Treffer zu landen. Diese Umständlichkeit trägt zwar zu der allgemein spürbaren Verzweiflung und Hilflosigkeit bei, endet aber derzeit noch gefühlt zu oft mit dem auf Dauer frustrierenden eigenen Ableben.
Auch ohne die freiwillige Permadeath-Option gewählt zu haben, ist ein Besuch des Sensenmanns äußerst ärgerlich. Nicht nur werden alle Gegenstände im Inventar eines spürbaren Teils ihrer Haltbarkeit beraubt, auch verliere ich alle bereits durch das Pilzserum erlangten Fähigkeiten. Da überlege ich besser zweimal, ob ich mich auf einen Kampf einlasse oder die letzten Holzplanken vielleicht lieber für die Verbarrikadierung der Fenster nutze, statt einen wenig wirksamen Knüppel daraus zu schnitzen. Immerhin wache ich trotzdem am nächsten Tag auf und kann mich erneut in den stets zufallsgenerierten Wäldern um überlebenssichernde Mittel bemühen. Gelegentlich treffe ich dabei auch auf weniger feindliche Geschöpfe, deren Erscheinungsbild dennoch ein schauderhaftes Kribbeln hervorruft. In Gesprächen mit ihnen erhalte ich eher beiläufig kleine Nebenaufgaben, die ich kaum registriere, da ich fasziniert auf das Figurendesign starre, statt die beigefügten Texthäppchen aufmerksam zu lesen. Zusammen mit der unheimlich bedrückenden und stets unangenehm nah wirkenden Geräuschkulisse gehört das Charakter-Design von Darkwood, im Sumpf der zunehmend generisch wirkenden Survivalspiele der vergangenen Monate, definitiv zu dessen hervorstechenden Merkmalen.
“I could feel your stench from afar. You should be thankful I don’t have an appetite for carcasses, eh.”
Nyctohylophobie nennt man die Angst vor dunklen Wäldern. Das habe ich nachgeschlagen, weil ich nach mehreren Stunden mit Darkwood zu der Überzeugung gelangt bin, darunter zu leiden. Nie bin ich mir sicher gewesen, ob das Knacken eines Astes von mir verursacht wurde oder ob es nicht doch eher mit dem leisen Knurren zusammenhing, das mich seit einigen Minuten verfolgte. Meine Nase berührte beim Spielen fast den Bildschirm, in der Hoffnung, mögliche Gefahren schneller erkennen zu können. Ich stieß mir das Knie vor lauter Panik am Schreibtisch an, als in der Nacht das einzig nichtverbarrikadierte Fenster meines Unterschlupfs zu Bruch ging. Doch den größten Schreck erlebte ich, als beim nächsten Spielstart mein gespeicherter Fortschritt verschwunden war, da jedes neue Update, von denen es in den vergangenen zehn Tagen bereits drei gab, alles auf null zurücksetzt. Es ist eben eine wirklich frühe Version, fehlerbehaftet und mit Balancing-Problemen, die nach und nach hoffentlich behoben werden, damit in absehbarer Zeit auch der restliche Inhalt folgen kann. Bis dahin verbringe ich die restlichen schönen Tage vielleicht im Stadtpark und lasse Brotkrumen auf dem Weg dahin fallen, damit ich wieder nach Hause finde, wenn die Dunkelheit anbricht. Sicher ist sicher.