Bientôt l’été
Seit das Museum of Modern Art (MoMA) angekündigt hat, in Zukunft auch Computerspiele in ihre weltberühmte Sammlung moderner Kunst aufzunehmen, regt sich erneut eine bohrende Frage: Können Computerspiele Kunst sein? Für das Independent-Entwicklerstudio Tale of Tales – bestehend aus dem belgischen Künstlerpärchen Auriea Harvey und Michaël Samyn – ist die Antwort schon lange klar. Sie produzieren ein spielerisches Kunstwerk nach dem anderen. Mit Bientôt l’été erscheint am 12. Dezember ihr neustes Experiment über Strandspaziergänge, Zigarettenrauch und Liebesschmerz.
“I chase the image of your body lost in the darkness of the sea.”
Bientôt l’été beginnt in den Weiten des Weltalls. Planeten und Monde sausen vorbei, während uns die sphärische Musik von Walter Hus leise einlullt und ein mysteriöser Counter hochzählt. Warum? Egal, Kunst! Wir wissen es nicht. Anschließend entscheiden wir uns zwischen einem weiblichen oder männlichen Avatar, die beide in futuristischen Cryokapseln vor sich hin schlummern. Haben wir eine Wahl getroffen, finden wir uns am Strand wieder, lauschen den Möwen und dem Rauschen des Meeres. Die Brandung spült träge einzelne Wörter und ganze Sätze in den Sand, die wir beim langsamen Drüberspazieren auflesen. Warum? Egal, Kunst! Wir wissen es nicht. Schließen wir die Augen, befinden wir uns in einer Cyberspace-Version des Strandes wieder, die das literarische Strandgut und andere wichtige Orte, wie ein kleines Café auf der Promenade, optisch hervorhebt. Warum? Egal, Kunst! Wir wissen es nicht. Betreten wir das Café, beginnt des zweite Phase von Bientôt l’été. Verbunden über das Internet, nimmt ein zweiter Spieler oder eine Spielerin uns gegenüber Platz am Schachtisch. Was dann passiert, erinnert an die finstersten Klischees des französischen Kinos. Zug um Zug werden Gauloises geraucht, Weingläser leergetrunken und die am Strand entdeckten Sätze und Wörter auf Französisch dahin gesäuselt, bis einer fort geht oder es einfach nichts mehr zu rauchen, trinken oder sagen gibt. Narration und/oder Gameplay: Fehlanzeige. Warum? Egal, Kunst! Wir wissen es nicht.
“Every time we do not know any thing any more, every time…”
Das ist eine unfaire Beschreibung von Bientôt l’été. Computerspiele haben es schwer, als Kunst (an-)erkannt zu werden. Für den berüchtigten Filmkritiker Roger Ebert werden sie schlicht niemals Kunst sein und Guardian-Autor Jonathan Jones erteilt der geplanten Sammlung des MoMa eine ganz ähnliche Absage. Schach ist eben keine Kunst und ein Schachspieler sicherlich kein Künstler. Noch schwerer haben es Computerspiele aber, bei Computerspielern akzeptiert zu werden, wenn sie einmal wirklich Kunst sein wollen. Experimente wie The Path, Dinner Date oder Dear Esther gelten bei den Roger Eberts der Computerspielwelt bestenfalls als prätentiös und im schlechtesten Fall nicht als Spiel. Die Dogmen Argumente sind dabei kaum von denen der “Computerspiele können nie Kunst sein!”-Fraktion zu unterscheiden. Game-Designerin Sophie Houlden hat das mit einer Umkehrung der Ausgangsfrage in “Can Art be Games?” sehr schön illustriert. Entspricht der Gegenstand der Kritik nicht den gewohnten Vorstellungen von Spiel bzw. Kunst, kann er nicht gut/wichtig/richtig genug sein. Sollten Computerspiele deswegen besser keine Kunst sein, selbst wenn sie es sein könnten? Nein, natürlich sollten sie, denn es liegt in der Natur von Kunst, nicht so zu sein, wie man es gerne hätte.
“The artist must ever play and experiment with new means of arranging experience, even though the majority of his audience may prefer to remain fixed in their old perceptual attitudes.” – Marshall McLuhan
Der Medienwissenschaftler Marshall McLuhan hat Kunst als “anti-environment” bezeichnet. Als Gegen-Umwelt macht sie sichtbar, in welcher Umgebung wir gerade stecken, ohne es so recht zu merken. Computerspiele können darum gar nicht anders als Kunst zu sein, stellen sie doch permanent unsere Wirklichkeit mit einer digitalen Realität in Kontrast. Wenn die alternde Kunstelite dabei lautstark über Computerspiele zu meckern beginnt, spricht das umso mehr für einen neuen Stern am umkämpften Kunsthimmel. Es ist eben ziemlich blöd, wenn man auf einmal nicht mehr ganz vorne mitspielen darf mitreden kann. Grund zur Schadenfreude ist das aber kaum, denn auch Computerspielern machen sich vermehrt dem elitären Gehabe schuldig. Bientôt l’été wird sich garantiert wieder dafür schelten lassen müssen, anders zu sein als frühere Spiele. Es wird vernichtende Kritik von Hardcore-Gamern dafür ernten, ein anti-evironment, Kunst zu sein. Daher besser noch einmal an den Anfang. Wir wollen ja nicht als ignorante Banausen dastehen.
“Sometimes during the day, I end up imagining myself without you.”
Bientôt l’été beginnt in den Weiten des Weltalls. Es will uns keine Science-Fiction-Geschichte erzählen, sondern etwas spürbar machen. Wir entfernen (oder nähern) uns, ein Zähler tickt hoch, während unsere Avatare fest schlafen. Das Spiel möchte eine Atmosphäre heraufbeschwören. Ein Gefühl der Distanz und Kälte. Bientôt l’été gelingt das ziemlich gut und ist damit ein beispielhafter Vertreter von jenen aktuellen Computerspielen, die sich fast ausschließlich am Schaffen von Atmosphäre abarbeiten und klassische Gameplayelemente in den Hintergrund stellen. Am Strand wird die einsame Stimmung noch intensiviert. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, möglichst schnell oder virtuos an ein Spielziel zu kommen, sondern alleine und still zu sein, die Atmosphäre wirken zu lassen. Das mag nicht sehr herausfordernd klingen, aber der durchschnittliche Call of Duty-Spieler wird trotzdem daran scheitern. Langeweile Stille ist manchmal der härteste Gegner. Zu sammeln gibt es nur Wörter und Sätze, die allesamt aus der Feder der Schriftstellerin Marguerite Duras stammen. Das erklärt auch, warum sich die Spielphase im Café so sehr nach klassischem französischen Kino anfühlt. Duras zeichnet sich unter anderem für das Drebuch des Filmklassikers Hiroshima, mon amour verantwortlich und ist für ihr schlichtes Vokabular bekannt, die viel Raum für Anspielungen und Unausgesprochenes lässt. Gegenüber einer anonymen Person kann diese Sprache in Bientôt l’été ihre volle Wirkung entfalten. Auf einem Schachbrett verteilen wir unsere Spielfiguren und wählen damit aus, was wir sagen wollen. Kein Dialog läuft gleich ab. Manchmal scheinen die Gespräche absolut Willkürlich und manchmal sind es schmerzhafte oder geradezu grausame Liebes- und Hassgeständnisse. Wenn das eigene Bekenntnis mit einem süffisanten “Nein” und einer Rauchwolke im Gesicht quittiert wird, tut das tatsächlich weh. Melancholische Chansons als Hintergrundbeschallung tun ihr Übriges. Liebe ist ein Schachspiel, das man auch verlieren kann. Und manchmal ist Schach eben doch Kunst.
“I think a lot about you since I have seen you again.”
Wie bei allen Spielen von Tale of Tales braucht auch Bientôt l’été seine Zeit, um die volle Wirkung zu entfalten. Die Atmosphäre erschließt sich nur mit etwas Geduld und erst nach und nach machen die Metaphern, die uns das Spiel anbietet, Sinn. Auch der Vorläufer The Path hat eine Weile gebraucht, bis es unter anderem als Kommentar auf viel zu etablierte Regel- und Wegstrukturen sichtbar werden konnte. Bientôt l’été lädt immer wieder zum Nachdenken über das Gespielte ein. Vielleicht ist es ein anti-environment, das uns zeigen will, dass wir schon längst distanziert voneinander in digitalen Wirklichkeiten nach dem besten Schachzug in einem schmerzhaften Spiel suchen. Die Sprache der Liebe in Zeiten der Telepräsenz. Oder es ist ganz anders. Kunst muss man selbst anschauen und ausprobieren, um sie verstehen zu können. Ganz egal ob im Museum oder am Computer.
“Sometimes I believe that to love is to see. To see you.”