Blast from the Past: Deus Ex
Es war eine sehr angespannte Atmosphäre, als ich mit dem Regionalexpress aus dem großen Hamburg wieder zurück in mein kleines Pissdorf fuhr. Der Zug war voll, aber nicht voller als sonst, nur die Menschen darin wirkten seltsam nervös. Sie hatten bereits davon gehört, wenn auch nur flüchtig, doch sie konnten es einfach nicht einordnen. Niemand konnte mal eben sein Smartphone zücken und Antworten finden. Alles, was ich ihren Gesichtern und ihren Flüsterstimmen entnehmen konnte, war, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Eine Stunde später sah ich, wie zwei Flugzeuge in Dauerschleife immer wieder in das World Trade Center stürzten.
Ich war 17 Jahre alt, hatte gerade die Schule abgebrochen und meine Ausbildung angefangen. Ich hatte mir durch die falsche Angabe meines Geburtsdatums bereits meine ersten eigenen vier Wände erschlichen, aber noch nie ein Mädchen mit Zunge geküsst. Und nun saß ich da alleine in meiner Einzimmerwohnung, blickte in die staubbedeckten Gesichter der Augenzeugen und empfand dies als endgültige Bestätigung dafür, dass mit der Welt etwas grundlegend nicht in Ordnung ist. Eine Empfindung, die sicher viele Teenager mit dem Verlust der kindlichen Unschuld durchmachen, die sich jedoch bei mir bereits ein Jahr zuvor einschlich. Denn in Deus Ex waren die Zwillingstürme aufgrund eines terroristischen Anschlags bereits bei dessen Veröffentlichung im Jahr 2000 nicht mehr Teil der berühmten New Yorker Skyline.
“Do you ever ask what it’s all for? The surveillance, the police, the shoot-on-sight laws? Is that freedom?”
Dass dem so war, bemerkte ich erst Jahre später, als ich mich abermals auf die Weltverschwörungsfantasie von Warren Spector einließ. Diese war dabei so weitgreifend und allumfassend, dass die erwähnte Anekdote im Gesamtkontext nicht mehr als eine konspirative Randnotiz für die LAN-Partys der Folgemonate aufwarf. Denn Deus Ex fiel in eine Zeit, in der vieles unsicher schien. Die Beatmungsgeräte in den Krankenhäusern drohten durch den Y2K-Bug auszugefallen, Filme wie The Matrix und Gattaca hinterfragten Realität und Identität und in den USA wurde jemand mit weniger Stimmen als sein Kontrahent zum Präsidenten gewählt. All diese Eindrücke vermengten sich mit meinen persönlichen, so unüberwindbar wirkenden Teenie-Unsicherheiten zu einer beängstigenden Melange. Deus Ex war dabei wie ein Schwamm, der meine lebensmüden Augen auswusch und das reale Chaos in einer fiktiven Zukunft begreifbar machen wollte. Doch am Ende blieben nur noch mehr Fragen offen.
“Corporations are so big, you don’t even know who you’re working for. That’s terror. Terror built into the system.”
Mit dem augmentierten Agenten und Matrix-Cosplayer JC Denton pulte ich Schicht für Schicht von der monströsen Verschwörungszwiebel ab, die mit Themen wie politischer Korruption, Terrorismus, Illuminaten, künstlicher Intelligenz und der Area 51 praktisch alles abdeckte, was gerade noch so unter dem Aluhut Platz hatte. Der fehlende Fokus verwässerte dabei ein wenig die durchaus zutreffenden Vorhersagen über das politische Klima der folgenden Jahre. Der rigorose und willkürliche Kampf gegen den Terror, die zunehmende Abhängigkeit und Schnelllebigkeit vom technischen Fortschritt, die Verquickungen von Politik und Großunternehmen und die Normalisierung permanenter staatlicher Überwachung. Es sind riesige Themenkomplexe, die damals wie heute nur schwer zu begreifen und zu verarbeiten waren. Das Spiel konnte das freilich nicht leisten, doch spiegelte es die Undurchsichtigkeit einer Wirklichkeit wider, die zum damaligen Zeitpunkt gerade erst aus der Taufe gehoben wurde. Einer Wirklichkeit, die heute selbst in ihrer pubertären Trotzphase angelangt zu sein scheint und die im Zuge der Selbstfindung alles dafür tut, sich gegen das Weltbild der Alten aufzulehnen.
Die Bilder des Anschlags blieben bei mir, noch lange nachdem ich den Fernseher ausgeschaltet hatte. Es war niemand da, mit dem ich darüber reden konnte, also setzte ich mich an den Computer und suchte nach Antworten, bis die ersten Vögel vor meinem Fenster zwitscherten und mir klar wurde, dass ich keine finden werde. Es war ein schwieriger Prozess, doch ich lernte in diesem Moment zu akzeptieren, dass mich eine stete Ungewissheit den Rest meines Lebens begleiten wird. Deus Ex war wichtig für diesen Prozess, da es der erste Titel war, der mir nicht weismachen wollte, für alles eine gute Erklärung zu haben. Es war das erste Spiel, das mich für erwachsen genug hielt, mir einen eigenen Reim auf seine Welt zu machen. Und damit schlussendlich auch auf meine eigene.