Blast from the Past: Pool of Radiance
Die Packung war golden, auf dem Cover ein blonder Typ im Kettenhemd, der von einem echsenartigen Wesen überfallen wird. Das Logo oben hat sich auch wegen der noch folgenden Spiele so tief in mein Gehirn eingebrannt, dass mich auch heute noch ein Pawlow’scher Restreflex an Endorphin ereilt, wenn ich es sehe: “SSI” stand da, Strategic Simulations Inc. – was für ein Name für eine Spielefirma! Wahrscheinlich, so stelle ich mir heute vor, standen hinter diesem Namen übergewichtige US-amerikanische Mittvierziger mit getönten, riesigen Brillen, Baseball-Caps und Schnauzer, die in ihren riesigen Hobbykellern seit Jahrzehnten detailliert die berühmtesten Schlachten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges nachstellten. Das Bild könnte auf die Menschen hinter der prominenten, mir damals gänzlich unbekannten AD&D-Franchise für Computerspiele schon zutreffen, denn immerhin waren das damals die späten Achtzigerjahre, genauer gesagt Weihnachten 1988, ein Jahr vor dem Mauerfall, Ronald Reagan war US-Präsident und ich hatte auf endloses Drängen, Flehen und Jammern es tatsächlich geschafft, ein Spiel für meinen C64 als Weihnachtsgeschenk zu bekommen.
Bestellt habe ich dieses Geschenk, glaube ich, sogar selbst, und zwar bei einem der deutschen Versandhändler, die damals für ein Kind, das in tiefer Provinz, noch dazu im Schatten des Eisernen Vorhangs, aufwuchs, die einzige Quelle für – legale – Spiele waren. Da lag es also nicht gerade als Überraschung, aber heiß ersehnt unter dem Baum. Die Verpackung aufgerissen, unfassbare vier Floppy-Disks, ein fettes Handbuch, eine Codescheibe als Kopierschutz – das war Pool of Radiance, ein “Rollenspiel”, und das Lesen der Tests in Power Play und ASM hatte mich so scharf darauf gemacht, dass ich wusste: Auf mich wartet eine Welt voller Abenteuer.
So war es dann auch, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Die verfallene Stadt Phlan, die ich in den Weihnachtsferien von Monstern säuberte, das auch heute noch von mir höchst geschätze legendäre Album “So” von Peter Gabriel, das ich ebenfalls geschenkt bekommen hatte, in Dauerrotation, meine Augen rot – es waren wunderschöne Weihnachtsferien. Heute noch verbinde ich übrigens unglaubliche Entdeckerfreude mit dieser Platte: “Red Rain” assoziiere ich spontan mit dem unvergesslichen Dornlabyrinth am Ende des Spiels, “We do what we’re told” mit den adrenalintreibenden Kämpfen gegen Untote auf Sokol Island. Ich erinnere mich noch ganz genau, dass ich eines sonnigen Morgens voller Begeisterung in den unteren Stock unseres Hauses rannte, im Pyjama, um meiner Großmutter aufgeregt mitzuteilen, dass ich soeben diesen Drecksvampir erledigt hatte. Und auch an ihren mitleidigen, leicht besorgten Blick kann ich mich gut erinnern.
Kurzum: Ich versank in der mir zuvor unbekannten Welt des Computerrollenspiels. Die AD&D-Spiele von SSI – später folgten noch 35 Titel, darunter “Curse of the Azure Bonds” und die “Krynn”-Reihe, die ich ebenso kaufte und mit Begeisterung spielte – waren ein seltsames Mittelding aus Elementen der “Bard’s Tale”-Reihe und den erst viel später kommenden “Baldur’s Gate”-Titeln. Sprich: Die Bewegung mit seiner Party erfolgte schrittweise in 3D, in den Kämpfen aber – und es gab viele Kämpfe, in manchen Gebieten alle drei Schritte – steuerte man quasi aus fixer Vogelperspektive seine Helden rundenweise einzeln, was wie etwa bei “Heroes of Might & Magic” gewisse taktische Möglichkeiten bot. Magier und Fernkämpfer nach hinten, wie platziere ich Flächenzauber, haben die Heiler alle Mitstreiter in Reichweite – den absoluten Großteil der garantiert über 100 Stunden Spielzeit verbrachte ich in dieser taktischen Kampfansicht, wo man wieder und wieder unermüdlich gegen zum Teil große Gegnergruppen kämpfte.
Pool of Radiance, und das ist eigentlich noch bedeutsamer, war aber auch mein Ticket in eine ganz andere Welt. Beseelt vom Computerrollenspiel kam ich mit einem Schulkollegen ins Plaudern, der mit dem Wort “Rollenspiel” das real thing assoziierte. Er war in einer noch fantastischeren Welt unterwegs, nämlich in jener des Pen&Paper-Rollenspiels. Wir freundeten uns an; irgendwann fiel einer der regulären Mitspieler seiner Runde aus. Ich wurde eingeladen, mitzuspielen – und das tat ich dann auch in den nächsten sechs Jahren. So war ich also den Weg zurück gegangen: Von der Umsetzung des weltgrößten Rollenspielsystem auf Computer war ich quasi über die Bande bei zwanzigseitigen Würfeln, Charakterbögen und Mitspielern aus Fleisch und Blut angelangt. Und die wiederum brachten mir über einen anderen Umweg ganz andere Erfahrungspunkte ein, unter anderem erstes Ausgehen, die traditionelle pubertäre Alkoholvergiftung und Freundschaften, die teilweise bis heute gehalten haben.
Es ist ein kleines Antiklischee: Hunderte Stunden des rotäugigen Starrens auf krümelige Pixel haben mich in gewisser Weise in die Gesellschaft hinausgeführt, in verrauchte Kleinstadtbars, die heute längst geschlossen haben, zu nächtelangen Diskussionen über Philosophie und Actionfilme, zu Partys mit Trinkspielen und “Battle Arena Toshinden”-Duellen, zu Lagerfeuern, Mitternachtsimbissen, meinem ersten Kuss. Man könnte sagen, dass Pool of Radiance am Anfang meiner ganz persönlichen Coming-of-Age-Geschichte steht.
Tschüss, SSI, tschüss, TSR, Phlan, Forgotten Realms, tschüss, ihr Helden, von denen ich mir bis heute die Namen gemerkt habe: Es war magisch. Pool of Radiance war die Eintrittskarte in ein anderes Leben. Vor kurzem habe ich es wieder installiert, und zwar die Portierung für MS-DOS. Manche Erfahrungen, so habe ich dabei gelernt, lassen sich nicht wiederholen.
In der Serie Blast from the Past berichten Superlevel-Autorinnen und -Autoren sowie gelandene Gäste über prägende Spiele und Spielerlebnisse aus der Kindheit und Jugend.
Rainer Sigl spielt seit den Tagen des C64 und schreibt seit 2005 für unterschiedliche Medien (nicht nur) über Computerspiele. Games-Texte erschienen unter anderem für fm4, Telepolis, WASD, tba, den Online-Standard, ZEIT online, die Huffington Post, the gap und KillScreen.