Blast from the Past: Tomb Raider
Veränderungen sind Prozesse. Wie radikal die Erfindung des Buchdrucks auch gewesen ist, es hat Jahre gedauert, das Verfahren zu optimieren, Jahrzehnte um sich durchzusetzen, Jahrhunderte um Religion, Wissenschaft und Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Auch wenn der König gestürzt wurde, brauchte die Revolution Zeit, um das alte System neu zu ordnen und Kontinuitäten, im Guten wie im Schlechten, waren stets unvermeidlich.
Aber was interessiert mich der entrückte Blick des Historikers? Auf persönlicher Ebene gibt es sie, die radikalen Umbrüche, die alles verändern, von heute auf gleich, von jetzt auf sofort, ohne sanfte Übergänge und multidimensionale Prozesshaftigkeit: Geburt und Tod, das Ende eines alten Jobs, der Beginn einer neuen Liebe oder der Umzug in eine andere Stadt.
“Magst du fettes Brot?” war eine Frage, auf die ich keine Antwort wusste. Neue Stadt, neue Schule, neue Mitschüler und, wie ich später erfuhr, weniger ein anderer kulinarischer, als anderer Musikgeschmack. Bei Popmusik konnte ich nicht mitreden, bei Hiphop schon gar nicht und meine (mangelhaften) Violinenkünste verschwieg ich aus Gründen der Uncoolness. Kaum jemand meiner Klassenkameraden mochte Star Trek und einen liebsten Olsen hatte ich nicht. Was blieb waren Videospiele. Doch was in späteren Jahren als universeller Eisbrecher dienen sollte, erzeugte hier ein Gefühl von Fremdheit. Hatte mein alter Freundeskreis sich auf Wirtschafts- und Strategiespiele spezialisiert, waren es Action- und Rollenspiele, über die sich meine neuen Mitschüler definierten. Meine Gesprächsversuche über SimCity und Transport Tycoon verliefen folgerichtig nach Sekunden im Sande und die allgemeine Faszination für Kettensägen und fliegende Gedärme war mir, als Kind einer ostwestfälischen Kleinstadt, fremd und unheimlich. Immerhin spielte niemand auf Konsole (Konsolen waren minderwertig, das wusste jeder!), ich fragte mich dennoch, wo ich eigentlich gelandet war.
Ich weiß nicht mehr, warum mir Luca die CD-Rom in die Hand gedrückt hatte. Vielleicht war es Mitleid, oder ich gehörte inzwischen tatsächlich zu den coolen Kindern, oder es ergab sich schlichtweg aus dem Gesprächsverlauf. Ich wusste nur, es war eine Art Vertrauensbeweis, denn in der unscheinbaren Hülle steckte heiße Ware: “Hat mir meine Mutter vom moldavischen Schwarzmarkt mitgebracht. Sie bringt mir immer ein paar Spiele mit, kosten da nur fünf Mark. Läuft auf meinem PC irgendwie nicht, probier mal bei dir.”
Nicht nur, dass es offenbar ein Land gab, in dem nagelneue Videospiele günstiger gehandelt wurden, als deutsche Spielezeitschriften, nein, ich war an echte Gangster geraten! Schwarzmarkt, das klang in meinen Ohren nicht nach Klapptisch und Straßenhändler, sondern kriminell und verboten, nach verruchten Gestalten, die mit Sonnenbrillen in stickigen Hinterzimmern Drogengeschäfte tätigten. Lucas Mutter, davon war ich fest überzeugt, musste die mutigste Mutter der Welt sein – und Gangsterbraut.
In der Hülle, die ich öffnete als sich meine Eltern in maximal möglicher Entfernung vom Computer befanden, verbarg sich die vermutlich beste CD-Rom aller Zeiten. Ich übertreibe nicht: Hammer und Sichel, stechend-gelb auf mattschwarzem Grund, bedeckten die Oberseite. Großartig.
Ob es sich dabei um das Logo einer osteuropäischen Crackergruppe handelte, um den Standardaufdruck einer Rohlingmarke oder einen schlechten Scherz, wollte ich nie in Erfahrung bringen. Meine Tomb Raider-Kopie stammte von russischen Mafiosi, die sich, James Bond-Schurken gleich, mit den Insignien des Kalten Krieges schmückten – und vermutlich Katzen streichelten! Dass das Spiel tatsächlich auf dem väterlichen PC lief (zumindest in VGA-Auflösung), alles was ich über Videospiele wusste revolutionieren sollte und meine Liebe zu weitläufigen Spielwelten entfachte, konnte ich getrost als Bonus erachten.
Vergangenheitsverklärung lässt mich nicht nur die Bedeutung der russischen Mafia für meine Videospielhistorie überschätzen, sie lässt mich ebenso die Spiel-Kamera ignorieren, die sämtliche Kämpfe in Katastrophenszenarien verwandelte und Lara Croft sicher öfter das Genick brach, als die Gegner selbst. Gleiches gilt für die Kämpfe überhaupt. In meinem Tomb Raider gab es nur einen Gegner, den T-Rex im legendären dritten Level: Lost Valley. All die Wölfe und Mumien und Fledermäuse und Bären und noch mehr Wölfe, die eher Hindernis als Herausforderung waren, existierten nicht. Was bleibt, sind atemberaubende Labyrinthe, gespickt mit Fallen und Geheimnissen – und die Harfe der Titelmelodie.
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Aus dem Spannungverhältnis zwischen der akrobatischen Beiläufigkeit, mit der Lara Croft sich über die Steinblöcke hangelte, und den Gefühlen von Isolation und Desorientierung zog Tomb Raider seine Faszination. Die Level waren gemein und unübersichtlich, aber die Eleganz, mit der man eine perfekte Sprungpassage bewältigen konnte – zwei Blöcke Anlauf, unter dem Beil hindurch, Absprung, Klimmzug, 90°-Drehung, Absprung und in letzter Sekunde unter der sich schließenden Tür hindurch – ließen einen stets aufs Neue triumphieren. Lara war den Herausforderungen genau so gewachsen, wie alle anderen Superhelden auch. Fragen nach Geschlechterrollen wären mir damals lächerlich erschienen. Als ob es nicht egal wäre, ob man einen Mann, eine Frau oder ein Raumschiff steuert, so lange das Spiel gut ist.
Grobschlächtig wirkt Tomb Raider aus moderner Perspektive, mit seinem starren Klotz-Schema, das alle Architekturelemente in ein Raster aus quadratischen Blöcken zwängt. Doch spielerisch war gerade das eine Errungenschaft! Man musste nicht ausprobieren, ob man auf eine Böschung springen konnte, man konnte es sehen. Was höher als ein Block war, konnte nur über Umwege erreicht werden. Statt unsichtbaren Wänden begrenzten sichtbare Wände und tödliche Schrägen (ab 45°) den Level. Kurzum, das Leveldesign war menschenlesbar. Und lange bevor Marketingfachleute, 3D-Artists und Shader-Programmierer Tomb Raider hübsch und ansehnlich und cinematisch und langweilig machten und ihre Funksprüche, Schießbuden und Backstorys mitbrachten, war Tomb Raider ein Videospiel.
Irgendwann verlangte Luca seine CD-Rom zurück, denn er hatte nun einen neuen Computer mit 3D-Beschleuniger – auf den ich reichlich neidisch war. Allerdings brachte mir seine Mutter eine eigene Kopie vom Schwarzmarkt (!) mit, die später bei meinem Star Trek-Kumpel Carsten verschollen ging, der dann mein Tomb Raider 2-Kumpel wurde. Tomb Raider 2 lehrte uns, dass man eine Spinnenphobie ganz hervorragend mit der Pumpgun bekämpfen kann, dass das Kopieren von CD-Roms eine komplizierte Angelegenheit ist und dass man keine Achievements sondern Kreativität benötigt, um Videospiele zu genießen. “Klar kann man das ganze Spiel nur mit den Pistolen schaffen, wetten?” Und schließlich auch, dass Lara Croft eine Frau war, die verdächtig knappe Klamotten trug.
In der Serie Blast from the Past berichten Superlevel-Autorinnen und -Autoren über prägende Spiele und Spielerlebnisse aus der Kindheit und Jugend. Wir freuen uns über einen regen Erinnerungsaustausch in den Kommentaren.
Gifs via classictombraider.tumblr.com und tombraider.co.vu