Geoguessr

Ich sitze im Zug und mache Dinge, die man im Zug so macht: Den angetrunkenen Kegelclub ignorieren. Den Bulettengeruch des Sitznachbarn ausblenden. Die Dame, die es auf meinen Sitzplatz abgesehen hat, freundlich darauf hinweisen, dass sie sich im falschen Zug befindet. Zugdinge eben. Vorwiegend jedoch starre ich aus dem Fenster. Aber nicht die Pfützen, die das abschwellende Hochwasser auf den Feldern hinterlassen hat, erhaschen meine Aufmerksamkeit, nein. Meine Augen suchen nach Straßenschildern, nach Reklametafeln, und Denkmälern. Sie lesen die Landschaft wie ein Rätsel, hungrig nach Hinweisen – Geoguessr hat seine Spuren hinterlassen.

Geoguessr ist Google Street View verkehrt herum. An einen zufälligen Ort irgendwo auf der (von Google Street View erfassten) Welt geworfen, gilt es die eigene Position auf der Weltkarte möglichst präzise zu erraten. Je näher man die Nadel an den gesuchten Ort setzt, desto mehr Punkte gibt es.

Die Erde, in aktuellen Fotos festgehalten und als dreidimensionaler Raum erfahrbar gemacht — eigentlich klingt das nach Science-Fiction, Matrix und Holodeck. Doch während das Holodeck Aufregung und Abenteuer verspricht, sind Dienste wie Google Street View beinahe unsichtbar mit unserem Alltag verschmolzen. Die Vorstellung, jeden (größeren) Ort dieser Welt besuchen zu können, sollte uns stets aufs neue begeistern. Stattdessen benutzen wir es, um vorab nach Parkplätzen Ausschau zu halten. Nach Parkplätzen!

So einfach die Idee, Street View in ein Spiel zu verwandeln, so nachhaltig die Auswirkungen. Die dünne Schicht, die GeoGuessr auf die Daten legt, bringt diesen Hauch von Magie zurück, der dem Alltagswerkzeug Street View fehlt. Die digitale Weltreise wird wieder Abenteuer und die zuvor so beliebigen Bilder US-amerikanischer Straßenzüge verwandeln sich in die verschlüsselten Hinweise eines Detektivspieles. In welchen Städten gibt es gelbe Taxis? Ist das im Hintergrund nicht die Skyline Chicagos? Neue Orte, neue Eindrücke, man scheitert, lernt und probiert aufs neue. Ein schöner Meeresblick mit Palmen entpuppt sich beim Erkunden als eine Region, in der Sandsacksperren und Maschinengewehre zum Alltagsbild gehören. Eine kleine Insel südlich von Japan hat ein Festungsbauwerk, das sich nicht vor der chiniesischen Mauer verstecken braucht und nicht jede Wüstenlandschaft mit roten Steinen und etwas Gestrüpp liegt in Australien.

Einen Schwachpunkt hat Geoguessr: Google. Eine Firma, zu der man ein sehr gespaltenes Verhältnis haben muss, etwa wenn sich ihr Firmenchef in Interviews eine Insel erträumt. Eine Insel abseits der Zivilisation, ein Raum ohne Gesetze, in dem sich das Genie frei entfalten kann und wo soziale Normen und moralische Bedenken dem technischen Fortschritt nicht im Wege stehen. Ein Schelm, wer Parallelen zu Kevin Levines Unterwasserwelt Rapture zieht, die den größenwahnsinnigen Traum reicher Männer bis zur Katastrophe überspitzte. „Don’t be evil“ – es fällt schwer Googles Leitmotto ohne zynischen Unterton zu lesen.

Vielleicht hat Google ja recht damit, dass die Privatsphäre ein Auslaufmodell ist und dass wir uns an Vorgänge, denen wir heute mit Skepsis begegnen, in Zukunft gewöhnen werden. Dennoch fühle ich mich äußerst Unwohl bei dem Gedanken, dass meine Internet- wie Realbewegungen zunehmend durch zentralisierte Algorithmen analysiert werden, deren Logik sich mir verschließt und deren Ergebnisse sich nicht nur zu Marketingzwecken gebrauchen lassen (Hallo, liebe NSA!).

Andererseits: Es tut eben kein anderer. Ich will ja ausdrücklich, dass bestimmte Daten gespeichert und gesammelt werden. Ich will auf alle Bücher dieser Welt jederzeit zugreifen können. Ich will alle Aufsätze zum Thema Klimawandel gezielt nach Stichworten durchsuchen können. Ich will alle Musik hören, überall und sofort. Ich möchte Kontaktdaten alter Freunde und zufälliger Bekannter in Sekundenschnelle finden. Ich möchte ein Archiv all meiner Korrespondenz. Ich will Fotos der gestrigen Feier und meines zukünftigen Urlaubsortes. Ich will die digitalisierte Welt, ich will sie jetzt! Und wenn es die demokratische Gesellschaft selbst nicht realisieren kann weil sie zu langsam ist und zu träge und zu viele Bedenken hat, dann soll es gefälligst jemand anderes tun. Geoguessr gäbe es ohne die Rücksichtslosigkeit des kalifornischen Unternehmens nicht.

Es war ein fataler Fehler, Kathi Geoguessr zu zeigen. War ich zuvor noch mit mir selbst und meinen Schätzungen zufrieden, die knappe 5.000 Kilometer neben dem gesuchten Ort lagen, hob sie das Spiel auf ein völlig neues Niveau. Bereits ihr zweiter Ort präsentierte sich als japanischer Rastplatz, auf dem eine große Landkarte mit touristischen Attraktionen die lokale Küstenlinie nachzeichnete. Das Bild war unscharf, aber es genügte. Ihre Schätzung lag 50 Meter daneben, meine Kinnlade am Boden und ihr Ehrgeiz war geweckt. Statt aus Architektur, Straßenbau und Vegetationszone die Region des Ortes grob zu erraten, war nun minutiöse Recherche angesagt. Rechts- oder Linksverkehr? Hat die Straße eine Nummer? Lässt die Reklametafel Schlüsse auf das Land zu, vielleicht gar auf die Stadt? Steht der Name des Trägers auf dem Baustellenschild? Jeder kleinste Hinweis, jede Auffälligkeit, jedes noch so kleine Zeichen wurde gedeutet und interpretiert. Dauerte eine Runde Geoguessr (mit fünf Orten) zuvor 5 bis 10 Minuten, wurden es jetzt 2 bis 3 Stunden.
Ihr größter Erfolg: Eine Brücke in den Niederlanden, auf einen Meter genau.

Eine Qualität des Spieles, die man gar nicht genug loben kann: Seine Regeln sind so schlicht, dass sie Raum für eigene Ideen lassen.


  • Zeitlimit? Stoppuhr(app) auspacken. 3 Minuten pro Ort. Und los!
  • Multiplayer? Deinen Freund/Freundin daneben setzen und gemeinsam rätseln.
  • Nur die Startposition darf verwendet werden.
  • Kathi bekommt 1.000 Strafpunkte, damit es fair bleibt.

Das ist beinahe banal, aber im Vergleich zu Spielen, in denen Schichten voller Icons, Tutorials, Achievement-, Quest- und Sammelsysteme das gesamte Spielerlebnis bis ins letzte Detail vorstrukturieren, fühlt sich das ungemein befreiend an. Hier stört es keinen, wenn man die eigentliche Aufgabe vergisst und sich stattdessen in den schottischen Highlands verläuft. Kurzum: Besser werden Spiele nicht.