Gone Home
“Katie, I’m sorry I can’t be there to see you, but it is impossible. Please, please don’t go digging around trying to find out where I am. I don’t want
Mom and Dadanyone to know. We’ll see each other again some day. Don’t be worried. I love you.”
– Sam
Ein Sturm, eine düstere Veranda, ein Zettel an der Tür – in den ersten zwei Minuten erklärt Gone Home ganz ohne Tutorial das gesamte Spiel: Wir agieren als Kaitlin Greenbriar, die nach einjähriger Europareise heimkehrt, um das Haus ihrer Eltern verlassen vorzufinden. Die Nachricht ihrer Schwester Sam verweist auf einen Konflikt mit den Eltern und beschreibt zugleich die Spielmechanik – “go digging around”.
Ein altes Haus und eine Familiengeschichte, mehr gibt es nicht zu sehen — weder Aliens noch Zombies, weder Laserwaffen noch Gummihühner. Nicht einmal die Bewohner treten auf. Wer herausfinden möchte, was in 1 Arbor Hill vorgefallen ist, der muss die gesamte Geschichte aus den Räumen, Objekten und Dokumenten rekonstruieren, die Familie Greenbriar hinterlassen hat. Aber nicht, indem man Schieberätsel löst oder Kisten stapelt, sondern mit den Methoden von Archäologie und Geschichtswissenschaft. Das Haus ist voller Artefakte und Quellen, voller Gegenstände und Texte, die man analysieren und interpretieren kann. Möbel, Rechnungen, Bücher, Zeitungen, Bilder und Spielzeuge — fast alles lässt Rückschlüsse auf die Figuren zu, auf ihr Leben, ihre Wünsche und ihr Handeln. Eine Erzählweise, die nicht zufällig an Bioshock erinnert. Raum für Raum deckt man so nicht nur die Hintergründe von Sams Verschwinden auf, sondern erfährt auch zahlreiche kleinere Geschichten und Geheimnisse.
Auch wenn das ruhige und friedfertige Spielprinzip Vergleiche zum Not-Game “Dear Esther” nahe legt, Gone Home ist anders. Wo “Dear Esther” die SpielerIn auf festem Pfad durch seine verschwurbelte Seelenlandschaft führt und wenig mehr zulässt als das Bestimmen der Blickrichtung, da fordert Gone Home kleine Interaktionen mit der Umgebung. Das Öffnen von Schubladen, das Wühlen im Papierkorb – es ist erstaunlich, welchen Effekt eine solch banale Handlung wie das Einschalten der Raumbeleuchtung für die “player agency” hat, für die Teilhabe an der Spielwelt. Dass man keinen Einfluss auf die Geschichte hat und eine weitestgehend linearen Erzählung rekonstruiert, stört kaum. Im Gegenteil. Die wenigen verschlossenen Türen verhindern, dass man sich im Anwesen verliert und geben dem ganzen die Struktur einer griechischen Tragödie, ohne den Forschungsdrang zu stark zu beschränken.
Kommen wir zu dem Punkt, an dem man Worte zur Geschichte oder besser den Geschichten verlieren muss. Bei einem Spiel mit zweistündiger Dauer ist beinahe alles als Spoiler zu betrachten, besonders wenn die Erzählung und die Charaktere von zentraler Bedeutung für das Erlebnis sind. Darum nur so viel: In einem Umfeld, das zwischenmenschliche Beziehungen scheinbar nur vor dem Hintergrund von Zombies, Dämonen und Killeraliens verhandeln kann, sind solch kleine familiäre Geschichten, wie sie Gone Home erzählt, ungemein bewegend. Man lacht und leidet mit den Figuren, wie es nur wenige Videospiele zuvor geschafft haben, auch – oder grade weil – man ihnen nur indirekt begegnet.
Gone Home ist in erster Linie ein Beweis. Ein Beweis für das, was viele schon immer geahnt haben: Ein Videospiel ohne Logikrätsel, ohne Geschicklichkeitstests und ohne Antagonisten kann funktionieren und trotzdem Videospiel sein. Das Erforschen von Räumen und das Rekonstruieren von Geschichte kann spannend und fordernd umgesetzt werden, so dass es als Spielmechanik vollkommen genügt. Was Steve Gaynor, Johnnemann Nordhagen und Karla Zimonja hier schufen, ist sicherlich nicht die letzte Antwort darauf, wie und was Videospiele erzählen können, aber eine der bisher klügsten.
“$40 is on the table to order pizza while we’re gone. Be good.”
– Dad
Will man Gone Homes Schwächen suchen, dann liegen sie im Beweischarakter des Spieles. Alles in Gone Home ist überdeutlich, beinahe überzeichnet. Die Figuren sind herzlich, aber klischeebehaftet, die Hinweise sehr klar und direkt. Selten spricht ein Raum für sich selbst, stets räumen mehrere Dokumente alle Zweideutigkeiten aus dem Weg. Immerhin lauern hinter der Haupthandlung ein oder zwei Themen die mehr Kombinationsgabe erfordern, als das Lesen überreflektierter Tagebucheinträge. Überdeutlich sind auch die wichtigen Objekte, die durch ihren Detailgrad eindeutig aus der generischen Umwelt aus Kisten und Kommoden herausstechen. Das ist zwar der Spielbarkeit und dem Budget geschuldet, wirkt zuweilen aber willkürlich. Eine ganze Bibliothek kann drei lesbare Buchrücken enthalten, während jede Videokassette im Spiel einzeln beschriftet ist. Apropos Videokassetten: Auch mit den Anspielungen auf die Popkultur der 90er hätte man eine Spur dezenter umgehen können.
Kleinigkeiten, die zwar ab und an die Illusion bröckeln lassen, aber letztlich wenig Einfluss auf das Ergebnis haben. Gone Home ist großartig und einzigartig und wird sich zu Recht als Referenzpunkt in den Bestenlisten der kommenden Monate und Jahre wiederfinden. Dankeschön, Fullbright.