GRiEF
Ich habe gerade ein Spiel mit vielen Schwächen gespielt. Ein Spiel, bei dem ich mich in ausweglosen Situationen häufiger dazu genötigt sah, Suizid zu begehen, um am letzten Checkpoint weiterspielen zu können. Ein Jump’n’Run, bei dem die Hauptfigur ab und zu in der Umgebung hängen blieb, bei dem ich immer wieder blind ins Nichts springen musste, weil mein Ziel sich nicht auf dem Bildschirm befand. Ein Ärgernis, bei dem teilweise nur durch Versuch und Irrtum herauszufinden war, welche Plattformen mich tragen und welche sich bei Berührung sofort in Luft auflösen. Keine dieser Schwächen kann ich dem Spiel wirklich übel nehmen. Es heißt GRiEF und sein Protagonist ist ein kleiner Junge, dessen Vater in Begriff ist, an Lungenkrebs zu sterben.
Der arglose Beobachter könnte meinen, dass andere Genre besser dazu geeignet sein könnten, das Thema Lungenkrebs zu verarbeiten. Tatsächlich täuscht der erste Blick auf GRiEF. Im ersten Level muss der Spieler dem Rauch von Aschenbechern ausweichen und wehende Qualmschwaden umspringen, die in der Luft satanische Gesichter zeichnen. Das fühlt sich ein bisschen an wie in einem Aufklärungsfilm aus dem Biologieunterricht, in dem Schulkindern klargemacht werden soll, wie schädlich Nikotin ist. Mich hat diese Passage insbesondere an den unsäglichen Streifen Comic-Stars gegen Drogen erinnert. Das Gefühl, gerade aufgeklärt zu werden, schwindet jedoch bald. Im Hintergrund sind immer wieder Dialoge zu hören. Der krebskranke Vater spielt seine Krankheit herunter, behauptet gar, er bräuchte einfach nur ein bisschen frische Luft. Das Ende ist zu diesem Zeitpunkt längst klar.
Die satanischen Rauchschwaden sind auch nur im ersten Level vorhanden, in jenem Abschnitt, der dem Leugnen gewidmet ist. Es folgen: Zorn, Verhandlung, Depression und Akzeptanz. Die fünf Stufen der Trauer. Als Spieler erlebe ich durch die Dialoge aus dem Off, wie es dem Vater des Protagonisten zunehmend schlechter geht, wie er niederschmetternde Diagnosen erhält, wie ihn seine Frau dazu auffordert, zu kämpfen, wie er wütend wird, auf seinen Sohn schimpft. Er solle doch bitte nicht seine Spielsachen überall herumliegen lassen, es könnte schließlich jemand darüber stolpern und sterben. Die Dialoge in GRiEF atmen schieren Sarkasmus, die Levels selbst strahlen nichts aus als Tod und Verderben.
Es wirkt seltsam bizarr, dass sich die Entwickler von TarHead Studio in diesem Rahmen dazu durchringen konnten, die Levels abwechslungsreich zu gestalten. Mal wird die Spielfigur immer wieder vom Wind davongeweht und ist dadurch zu besonders hohen und weiten Sprüngen in der Lage. Ausgerechnet im Depressionslevel muss der Protagonist dagegen immer wieder eine frische Rose aufsammeln bevor jene verwelkt, die er gerade in der Hand trägt. Ein Herzschlag im Hintergrund unterstreicht den Zeitdruck und jede neue Rose wirkt wie ein neues Stück Hoffnung, wo eigentlich schon längst keine mehr ist. Die schiere Mechanik ist aufgrund der zu Beginn erwähnten Schwächen bisweilen frustrierend. Ich frage mich aber schnell, was meine Videospielerfrustration vor dem Hintergrund eines an Krebs erkrankten Familienvaters zu bedeuten hat.
Trotz kurzer Spielzeit, Bugs und durchwachsenem Leveldesign werde ich das Gefühl nicht los, gerade etwas Großartiges gespielt zu haben. Durch seine tiefe und schließlich letale Ernsthaftigkeit hat mich GRiEF um den Finger gewickelt. Ich bin schon immer Nichtraucher gewesen. Wäre ich Raucher, wäre jetzt vielleicht einer der Momente, in denen ich ans Aufhören denken würde. So oder so hinterlässt das Spiel aber einen bleibenden Eindruck. Eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.